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Florian Russi:

Alids Traum

12 Einhorngeschichten

Mit diesen Geschichten entführt Florian Russi in die Welt der Einhörner und der Götter, Menschen und Tiere, denen sie begegnen.

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Zeitweilige Störversuche

Zeitweilige Störversuche

Manfred Meier

Der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 *)

Manfred Meier 

Am Morgen eines sonnigen Junitages machte ich mich - wie gewöhnlich - auf den Weg in die Redaktion. Ich bestieg die Straßenbahn, suchte mir eine ruhige Ecke und tauchte ein in meine Lektüre. Die Fahrt dauerte ziemlich lange, aber ich zog sie dem mehrfachen Umsteigen auf schnelleren Gefährten vor, weil ich da ausgiebig lesen konnte. Gehörige Mengen an Literatur habe ich im Laufe der Zeit auf dieser Strecke bewältigt. Irgendwo im Zentrum endete unvermittelt die Fahrt. Der Wagenführer sicherte die Kurbel und sagte: „Aussteigen bitte. Es geht nicht weiter. Wir streiken." Streik? Das war ein Fremdwort damals in Ostberlin, ein Begriff allenfalls aus der „Geschichte des Klassenkampfes". Und nun also Realität? Der Kalender zeigte den 17. Juni 1953. In meiner damals noch reichlich romantischen Weitsicht assoziierte ich sogleich pathetische Verse wie: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will." Und machte mich zu Fuß auf den Weg.

Gewiss, am Vortag hatte man durch den Rundfunk - den westlichen natürlich - erfahren, dass in der Renommierstraße Stalinallee etliche Bauarbeiter die Kelle aus der Hand gelegt hatten, um zu protestieren. Die Arbeitsnormen waren drastisch erhöht worden, nicht aber die Löhne. Die Gewerkschaften hatten dazu geschwiegen, denn sie waren ja nur der arbeiterfreundlich getarnte verlängerte Arm der Staatsmacht - vergleichbar etwa der Deutschen Arbeitsfront in der vorigen Diktatur. Aber die Bauarbeiter hatten die Zumutung nicht widerstandslos hinnehmen wollen. Doch den vielen Tausenden, die jetzt am Morgen durch die Straßen der Innenstadt drängten, ging es nicht mehr bloß um gerechte Entlohnung. Sie entluden ihren lange angestauten Unmut über eine Politik, die sie nicht länger akzeptieren wollten, gegen die sie aber kein demokratisches Instrument wie eine Wahl besaßen. Keineswegs in geschlossener Formation wie eine Protestdemonstration, sondern eher gemäßigten Schrittes wie Touristen bewegten sich die Leute der Stadtmitte zu. Mit dieser Menschenmenge überquerte ich den Marx-Engels-Platz. Da hatte einst das Schloss gestanden, durch Kriegseinwirkung beschädigt, aber in Teilen durchaus noch nutzbar; Ausstellungen und Kammerkonzerte hatte es nach Kriegsende dort gegeben. Aber auf Betreiben Walter Ulbrichts und seiner Gleichgesinnten musste das Schloss gesprengt und abgeräumt werden, einmal um die Erinnerung an preußische Geschichte zu tilgen, vor allem aber, um einen riesigen Aufmarschplatz zu gewinnen.

Hier fanden zu den hohen Staatsfeiertagen so genannte Kundgebungen statt, denen der Name nicht zukam, weil es nur straff organisierte Vorbeimärsche von vielen Tausenden vor den Repräsentanten der Partei- und Staatsführung waren. Als Schüler hatte ich es stets verstanden, mich vor den verordneten Aufmärschen zu drücken. Meist kam ich bei einem frühen Haltepunkt schon dem Schulkollektiv abhanden. Jetzt also sah ich erstmals belustigt jene Tribünen, auf denen sonst die Unterdrücker die vermeintlichen Huldigungen der Vorbeimarschierenden empfingen. Aus der Wochenschau kannte man das Zeremoniell: Droben huldvoll grüßend die Mächtigen, drunten Werktätige mit leuchtendem, optimistischen Blick, rote Tücher (so genannte Winkelemente) schwenkend, die zuvor vom Gewerkschaftsfunktionär ausgehändigt wurden.

Marschformation und Gleichschritt galten an jenem Tag nicht. Hoffnungsvoll gestimmte Menschen liefen die Straße Unter den Linden entlang. Ein paar Stunden später sollten hier bereits sowjetische Panzer dröhnen. Jetzt rollte nur ein vereinzelter Streifenwagen der Polizei vorüber, wurde gestoppt, umgekippt. Die Seitentür öffnete sich nach oben wie ein Topfdeckel. Einer wollte den Polizisten angreifen, andere mahnten zu Besonnenheit. Warum den Sack schlagen, wenn man den Esel meint? Der Uniformierte flüchtete hochroten Gesichts. Im Nachhinein wird er vielleicht einen Orden erhalten haben für Tapferkeit vor dem Klassenfeind.

Unser Redaktionsgebäude lag direkt an der Sektorengrenze, an jener Kreuzung, die später als Checkpoint Charlie bekannt werden sollte. Dort hatte sich eine aufgebrachte Menschenmenge versammelt. Ihr Zorn richtete sich gegen die Zollkontrolleure, jene verhassten Büttel des Regimes, die jedem, der die Grenze überschritt, die Taschen umdrehten und dabei manche Tafel Schokolade, Apfelsine oder auch nur ein Stück Seife konfiszierten.

Plötzlich stand eine Kontrollbaracke in Flammen, eine Zöllnerin rettete sich mit knapper Not ins Freie. Der Haupteingang zum Redaktionsgebäude war verschlossen. An der Tür klebte ein frisch gedrucktes Plakat. Der Text, von Hand gesetzt aus den selten verwendeten großen alten Holzlettern: „Hier wird gestreikt!" An die Herstellung einer Zeitung wäre ohnehin nicht zu denken gewesen. Die Druckerei lag - für jeden sichtbar - hinter der Fensterfront in der ersten Etage. Und diese Vorderseite des Hauses blickte direkt auf die Zimmerstraße, in der sich einst das Zeitungsviertel der Stadt befand und die jetzt trennende Grenze war. Aber auch die meisten Mitarbeiter der Zeitung übten - zumindest innerlich - Solidarität mit denen, die auf der Straße ihre Rechte einfordern wollten. Also rührte sich keine Hand.

Aber sollte ein guter Journalist nicht gerüstet sein, in der nächsten Ausgabe als Zeitzeuge zu berichten, was er sah, hörte und erfragte? Andererseits: Konnte man sich nach Jahren der politischen Entmündigung eine Umkehr, eine Wende zu demokratischen Formen der Gesellschaft überhaupt vorstellen? Die Stimmung in den Redaktionsräumen war zwiespältig. Was auch immer geschehen würde, der Journalist gehörte in diesen Stunden auf die Straße, meinte ich. Der Chefredakteur winkte nur gelassen ab. Er hatte schon Kaiserreich, Weimarer Republik und Nazidiktatur erlebt und schätzte die Lage wohl nüchterner ein als sein eifriger Volontär, der etwas zum Pathos des Sturm und Drang tendierte.

Was geschah inzwischen in der Stadt? Über die Fernschreiber der amtlichen Nachrichtenagentur tickten Verlegenheitstexte: Reportagen über ferne Länder, Ratschläge für den Gartenfreund und dergleichen. Von den Ereignissen draußen vor der Tür hingegen keine Zeile. Die einzige und auch sehr ergiebige Nachrichten- quelle waren die Westberliner Rundfunksender. Aber die, so später die offizielle Lesart der DDR-Machthaber, waren ja angeblich die Anstifter. Wir Mitarbeiter der Redaktion jedenfalls hockten in dem vergleichsweise spärlich möblierten Zimmer Chefredakteurs und hörten Radio - die einen mit erkennbarer Genugtuung, anderen mit unverhohlener Angst. Fürchteten sie für ihr Leben oder für den Fortbestand des Staatswesens?

Unten vor dem Haus konnte man zornige Menschen beobachten, die Steine auf die mittlerweile anrollenden sowjetischen Panzer warfen, eine freilich völlig nutzlose Aktion. Aber einige mutige Männer schwangen sich auch auf die plumpen Panzer vom Typ T 34, brachen die Antennen ab und machten die Fahrzeuge damit orientierungslos in der ihren Fahrern fremden Stadt. Erste Warnschüsse fielen. Wir duckten uns verschreckt. Natürlich war ich - allen guten Ratschlägen der älteren Kollegen zum Trotz - immer wieder auf die Straße gegangen. An einem solchen Tag hielt es mich nicht am Radio oder am Schreibtisch. Irgendwann kippte dann die Situation. Die in großer Zahl aufgefahrenen Panzer beherrschten und blockierten die Ostberliner City. Ganze Straßenzüge waren unpassierbar.

Irgendwann am späten Abend machte ich mich auf den Heimweg. Da Berlin noch eine Vier-Sektoren-Stadt mit offenen Grenzen war, konnte ich wenigstens einen Teil des langen Weges mit der Westberliner U-Bahn zurücklegen, den Rest zu Fuß, müde, aber glücklich. Ich hatte erlebt, wie Unterdrückte sich aufgebäumt hatten, ich war dabei gewesen. Wie auch immer der Aufstand ausgehen mochte, eines ließ mich frohlocken: An jenem 17. Juni war keine Zeitung entstanden, und diese Lücke würde in den Archiven ein deutliches Zeugnis von den Vorgängen ablegen, dachte ich.

Doch es sollte keine Lücke geben. Und dazu bedurfte es keineswegs der von Orwell in „1984" geschilderten Praktiken von Vergangenheitsretusche sondern einer simplen Anweisung durch das berüchtigte Presseamt, die ausgefallene Zeitung am nächsten Tag einfach nachzudrucken, um Normalität vorzutäuschen und das Ausmaß der Ereignisse einfach wegzulügen. Wir stellten also am nächsten Tag zwei Zeitungen her, uninformierte Abonnenten sollten glauben, mit der Auslieferung habe etwas nicht funktioniert. Pressegeschichtlich ist der Vorgang sicher ein kleines Kuriosum.

Auf der Titelseite der einen Tag zurückdatierten Ausgabe wurde mit Theaterdonner die „Ungeheuerliche Verschleppung Otto Nuschkes", des CDU-Vorsitzenden und stellvertretenden Ministerpräsidenten, beklagt und dessen sofortige Freilassung gefordert. Wie wir später erfuhren, war Otto Nuschke mit seinen Dienstwagen in grenznahe Gebiete gefahren, um sich ein Bild von den Vorgängen zu machen - bezeichnend für ihn als ehemaligen Journalisten. Bei dieser Tour hatten ihn Arbeiter erkannt und seinen Wagen über die Sektorengrenze nach West-Berlin gerollt, wo ihn die Polizei in Schutzhaft nahm.

Und die übrigen Ereignisse vom 17. Juni 1953? Der Polizeibericht meldete zeitweilige Störversuche „bezahlter verbrecherischer Elemente aus Westberlin, von denen sich die Bevölkerung distanziert habe. In sprachlicher Verunsicherung schwankten die Bezeichnungen für das Ereignis, das für die DDR-Machthaber ein Trauma bleiben sollte, zwischen Unruhe, Demonstration und faschistischer Provokation. Erst ganz unten auf der zweiten Nachrichtenseite - auch über die Positionierung einer wichtigen Meldung entschied ja das Presseamt - war unauffällig eine der wohl kürzesten, aber inhaltsreichsten Verlautbarungen der DDR zu lesen: „Der Beschluss der Regierung über die Erhöhung der Arbeitsnormen vom 28. Mai 1953 ist aufgehoben."

Ein Erfolg, ohne Zweifel. Aber war das alles, was der Aufstand der Arbeiter gegen die neue Diktatur gebracht hatte? Da waren in Berlin und in wichtigen Industriezentren der DDR Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen Unrecht zu protestieren, da hatten in mehreren Städten die Aufständischen politische Gefangene befreit, und in den folgenden Wochen wurden ungezählte Teilnehmer am Juni-Aufstand als „Rädelsführer" zum Tode verurteilt und erschossen, andere erhielten mehrjährige Zuchthausstrafen. Und das alles, damit ein unangemessener Beschluss zurückgenommen wurde?

Eines jedenfalls war auf entlarvende Weise deutlich geworden: Die ach so souveräne Staatsführung war ein fremdbestimmtes Marionettenensemble. Kaum war der Unmut der Bevölkerung spürbar geworden, schon traten die in Aktion, die in Wahrheit die Macht innehatten: die sowjetischen Militärbehörden. Die meisten Todesurteile und Erschießungen ergingen durch sowjetische Standgerichte. In Berlin war ab sofort eine abendliche Ausgangssperre verfügt worden - durch einen Militärkommandanten, der sogleich alle Weisungsrechte innehatte und von dessen Existenz wir überhaupt erst erfuhren, als die Plakate mit dem Tagesbefehl an allen Wänden und Zäunen klebten. Wer sich nach Einbruch der Dunkelheit noch auf er Straße aufhielt, riskierte mindestens eine Verhaftung, wenn nicht Ärgeres.

Erst allmählich gingen die Befugnisse wieder in deutsche Hände über. Und nun überschlug sich die - immer in dieser Verbindung und Reihung genannte - Partei- und Staatsführung mit Versprechungen und Entwürfen für eine strahlende Zukunft. Der »Neue Kurs" wurde propagiert, die als berechtigt erkannten Wünsche der Bevölkerung sollten ernst genommen und befriedigt werden. Aber was für Forderungen waren denn das, die da plötzlich erfüllt werden sollten?

Als junger Journalist in Ausbildung musste ich zu einer meiner Prüfungen so eine Art Bilderbuchreportage für die Zeitung schreiben. Was darin zu lesen steht, kennzeichnet die hastige Aktion der Wunscherfüllung in ihrer ganzen Lächerlichkeit. Die Regierung hatte nämlich eine zusätzliche Produktion so genannter Massenbedarfsgüter angeordnet. Ich ließ mir einen Betrieb nennen, der das nach Meinung der Industrie- und Handelskammer schon beispielhaft praktizierte. Dort wurden Werkzeuge und Metallspritzpistolen hergestellt. Und aus den Abfällen bastelten  die emsigen Werktätigen nun, was in den Haushaltswarenläden so alles fehlte: Luftpumpenhalter und Fußrasten für Fahrräder, Eierschneider, Teesiebe und andere Gebrauchsgegenstände.

So ganz konnte ich meine satirische Sicht der Dinge dann doch nicht unterdrücken und fügte hinzu, auf den kleinen Eierschneidern könnten verspielte Typen auch wie auf einer kleinen Harfe klimpern. Unausgesprochen dahinter stand, dass ja auch Eier zeitweilig zur Mangelware gehörten. Der verantwortliche Redakteur spürte die Bosheit nicht und titelte stolz: 50 000 kleine Harfen für die Hausfrauen. Die Aktion lief übrigens unter dem griffigen Sprüchlein: „Tausend kleine Dinge des Alltags." Der Slogan hielt sich ziemlich lange; ich erinnere mich, dass ein Laden in unserem Wohngebiet noch jahrelang unter dem Namen „Tausend kleine Dinge" geführt wurde, obwohl er schlicht Haushaltswaren im Angebot hatte.

Dass die Versorgung mit Lebensmitteln noch immer ein Problem war, galt natürlich als Verleumdung durch den Klassenfeind, also vornehmlich durch westliche Medien wie den von Funktionären meistgehassten Sender: den Rias. Dieser „Rundfunk im amerikanischen Sektor", was seine Abkürzung bedeutete, strahlte sein Programm mit gehöriger Energie aus und konnte weithin in der DDR empfangen werden. Um das zu ändern, setzten die DDR-Behörden - jedenfalls außerhalb Berlins - Störsender ein, die dessen Frequenz mit einem Jaulton überlagerten und damit die Verständlichkeit der Sendungen einschränkten. In Berlin, wo man mit einem solchen Vorgehen gegen das Vier-Mächte-Abkommen verstoßen hätte, mussten sich die leitenden Genossen damit begnügen, den Sender zu diskreditieren. Und so lasen die Berliner dann an Plakatwänden oder in Zugabteilen so triviale Reime wie: „Der Rias lügt - die Wahrheit siegt."

Berlin war ja allezeit, was Informationsmöglichkeiten betraf, eine Art Medienparadies, nicht nur wegen des Rundfunks und später zunehmend des Fernsehens, sondern auch durch die Zeitungsvielfalt. Schon als Schüler war ich an den Wochenenden regelmäßig zur Sektorengrenze gefahren, um am Kiosk auf der anderen Seite das Sonderangebot zu nutzen und die Ostausgabe einer Westberliner Tageszeitung zu kaufen - gegen DDR-Währung. Natürlich durfte man sich bei der Rückkehr - mit der verbotenen Lektüre unter der Jacke - nicht von der Zollkontrolle erwischen lassen.

Am meisten wohl machte den Funktionären der Rundfunk zu schaffen. Dessen Informationen konnte praktisch jeder empfangen, ohne auffällig zu werden.

Darum wurde auch jede Versammlung oder andere Zusammenkunft genutzt, um zu „agitieren" und klarzumachen, wie moralisch verkommen und ideologisch fragwürdig einer sei, der dem Klassenfeind sein Ohr leihe. Als durch den mehr und mehr verbreiteten Fernsehempfang der so genannte politische Gegner auch noch mit Bildern ins Haus kam, ließen sich die Abwehrstrategen etwas reichlich Absurdes einfallen. Die Aktion lief unter dem Schlagwort „Dreht die Antennen um!" Und da das kein Fernsehteilnehmer aus freien Stücken selbst tat, schickten sie junge Rüpel im Blauhemd der Freien Deutschen Jugend rudelweise durch die Wohnhäuser, um auf Dächern und Dachböden die dort montierten Antennen nach Adlershof auszurichten, von wo das Fernsehen der DDR sendete. Die Maßnahme wurde, nachdem selbst treue Genossen das wohl als unziemlichen Eingriff in die private Sphäre empfunden hatten, eines Tages stillschweigend beendet. Aber die Empfehlung, den Blick gefälligst strikt nach Osten zu richten, blieb noch längere Zeit in der Öffentlichkeit durch den Slogan mit dem Ausrufezeichen präsent.

Die Aufforderung wurde weithin ignoriert. Immerhin tat man das Verbotene heimlich, um nicht Ärger mit einer speziellen Behörde zu bekommen. Ein Fernsehmechaniker, der defekte Geräte reparierte, erzählte mir einmal belustigt, dass seine Kunden - um nicht als politisch unzuverlässig aufzufallen - ihren Apparat, bevor sie ihn zur Reparatur trugen, sorgsam auf den DDR-Kanal einstellten - damals hatten die Geräte noch Drehschalter, um die Frequenz zu wählen. Natürlich sah der Mann sofort, an welcher Stelle der Staub der Jahre sich abgelagert hatte und wo die Wählscheibe die Metallfläche blank geputzt hatte. Und noch eine wirkliche Kuriosität wusste der Mechaniker zu berichten. Damals - in den fünfziger Jahren  - gab es noch nicht allzu viele Fernsehgeräte in Privathaushalten. Um aber auch die Bildpropaganda weithin nutzbar zu machen, hatten einige Versammlungslokale der Nationalen Front Fernsehstuben für die Bevölkerung eingerichtet, um Gemeinschaftsempfang zu ermöglichen. Und so erschien eines Tages die Verwalterin einer solchen Fernsehstube in der Werkstatt mit dem eigentümlichen Begehren, man möge den Westkanal in dem ihr anvertrauten Gerät blockieren. Sie musste wohl befürchtet haben, in ihrer Abwesenheit könne ein Zuschauer einen ideologischen Schwächeanfall erleiden und am verbotenen Knopf drehen.

Subtiler ging da jene Lehrerin vor, die von ihren Schülern wissen wollte, welche Programme - West- oder Ostdeutsches Fernsehen - in den Familien empfangen wurden. Nun waren die Kinder pfiffig genug, sich und die Ihren nicht zu verraten.

Es ist ein sicheres Zeichen für ein Regime mit geistigen Zwängen, dass die Kinder frühzeitig zum Verschweigen oder auch Lügen angehalten werden. Also die einfache Befragung hätte nichts gebracht. Und so informierte sie sich listig durch die harmlos klingende Aufforderung, Beobachtungsgabe zu beweisen und die Uhr des  Fernsehens zu zeichnen. Da gingen die meisten in die Falle. Denn die eine Uhr zeigte die Minuten durch kräftige Striche an, die andere durch zierliche Pünktchen. Ja, die Überwachung erfolgte mitunter durchaus einfallsreich, aber den Niedergang des Regimes hat es letztlich nicht aufhalten können.

*) Entnommen dem Buch: Manfred Meier, Ein Leben in Deutschland, Erfahrungen mit zwei Diktaturen, Edition Steinbauer, Wien 2006, (ISBN 3-902 494-11-5)

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags

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