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Gefangen im Netz der Dunkelmänner

Berndt Seite, Annemarie Seite und Sibylle Seite

Berndt Seite und seine Familie möchten sich die »Stasi« von der Seele schreiben, um nicht ein Leben lang mit der DDR-Diktatur konfrontiert zu bleiben. Der Text soll einen Beitrag zur Aufarbeitung der SED-Diktatur leisten. 

Die brasilianische Botschaft

Die brasilianische Botschaft

Dietrich Lincke

Boschafterin Maria Luiza Ribeiro Viotti
Boschafterin Maria Luiza Ribeiro Viotti

 

Brasilien war seit 1846 - mit Unterbrechungen - durch Gesandte in Berlin vertreten. Die Adressen wechselten, u.a. Unter den Linden. 1921 wurde die Mission zur Botschaft erhoben. 1933 zog sie in die Tiergartenstraße, mußte dort aber im Dritten Reich der Japanischen Botschaft weichen und an die ebenfalls erstklassige Adresse in der Koenigsallee (Grunewald) umziehen. Nach dem Krieg war Brasilien wie fast alle Staaten durch eine Botschaft in Bonn vertreten und - nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen 1974 - auch in der DDR ( in Pankow).

Vor dem Kriege hatte Brasilien also fast alle klassischen Adressen durchlaufen. Als seine Repräsentanz 2000 in die deutsche Hauptstadt zurückkehrte, wurde sie zum Nukleus eines neuen Dilomatenviertels  an  der Wallstraße und der Spree, das die alten Zentren um das BrandenburgerTor und die Tiergartenstraße ergänzt. In der Nachbarschaft befinden sich heute u.a. die Botschaften Chinas, Australiens, der Niederlande, Zyperns, auch die Vertetungen des UNHCR und des Welternährungsprogramms (WFP). Angola ist sogar im gleichen Gebäudekomplex untergebracht wie Brasilien, wobei sicher die „lusitanische" Verbundenheit eine Rolle spielt; denn beiden ist aus der Kolonialzeit die portugiesische Sprache gemeinsam.

Was die Architektur des neu errichteten Botschaftsgebäudes angeht, war die Erwartungshaltung groß; denn man dachte sofort daran, daß Brasilien die Heimat eines der berühmtesten Baumeister des 20. Jahrhunderts ist: Oscar Niemeyer (1907-2012). Er ist einer der beiden Schöpfer des Verwaltungszentrums der Vereinten Nationen in New York; er hat mit den von ihm entworfenen öffentlichen Bauten den Charakter der neuen Hauptstadt Brasilia geprägt, die von 1956-1960 „aus dem Boden gestampft" wurde (allerdings dauerte es dann noch 12 Jahre, bis alle Bundesinstitutionen aus der bisherigen Hauptstadt Rio de Janeiro umgezogen waren, eine Parallele zum Wechsel von Bonn nach Berlin). Oscar Niemeyer hat übrigens auch in Berlin ein Beispiel seiner Baukunst hinterlassen: seinen Beitrag zur Internationalen Bauausstellung 1957. Nach den damaligen Vorgaben sollte es ein Wohnhaus sein (im Finanzrahmen des Sozialen Wohnungsbaus), das bis heute modern und elegant wirkt. Niemeyer arbeitete bis ins hohe Alter. Die Botschaft stammt zwar nicht von ihm selbst; man hat aber den Eindruck, daß die deutschen Architekten, die sie geschaffen haben, sich von seinen Ideen insprieren ließen. Dafür sprechen die schlichte Eleganz und die gediegenen Materalien des Baus.

Die Aufteilung ist großzügig und zweckmäßig. Die unteren vier Etagen beherbergen die Büro- und Verwaltungsräume sowie den Konsularbereich. (Die Botschaft ist mit 77 Mitarbeitern eine der größten ihres Landes in der Welt.) In den darüberliegenden drei Stockwerken befinden sich die Repräsentations- und Wohnräume der Residenz. Krönung des Gebäudes ist das oberste zurückgesetzte Staffelgeschoß mit Flugdach und umlaufenden großzügigen Terrassen, die einen eindrucksvollen Blick über die deutsche Hauptstadt gestatten. Die Botschaft liegt im historischen Kern Berlins, aber im Grünen und an der Spree, in unmittelbarer Nähe zum Köllnischen Park und zum Märkischen Museum. Eine ansprechende und ruhige, aber zentrale Position!

Für einen persönlichen Eindruck ist man nicht auf einen diplomatischen Empfang angewiesen, sondern man kann auch an einer der kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, die in der Botschaft stattfinden (Konzerte und Ausstellungen).

Präsidentin Dihna Rousseff und Bundeskanzlerin Angela Merkel
Präsidentin Dihna Rousseff und Bundeskanzlerin Angela Merkel

II:

 Wer die Botschaft sieht, erkennt (wenn er es nicht ohnehin weiß), daß Brasilien für Deutschland ein wichtiger Partner sein muß. Die Statistiken sprechen die gleiche Sprache: Es ist von der Fläche (über 8,5 Mio km²) wie auch von der Bevölkerungszahl her (über 200 Millionen Einwohner) das fünftgrößte Land der Welt, und es hat mit Deutschland starke gemeinsame Interessen: beide möchten die Vereinten Nationen modernisieren, insbesondere die Zusammensetzung und die Stimmengewichtung im Sicherheitsrat, die noch immer die Machtverhältnisse des Jahres 1945 widerspiegeln. Das Ziel ist es, den Aufstieg weiterer Partner zu berücksichtigen. Es ist sicher kein Zufall, daß Botschafterin Frau Viotti vor Antritt ihres Postens in Berlin Ständige Vertreterin Brasiliens bei den Vereinten Nationen in New York war (2007-2013) und, damit verbunden, 2010-2011 Leiterin der Delegation ihres Landes im Sicherheitsrat und 2011 sogar Vorsitzende dieses wichtigsten internationalen Gremiums. Braslien ist auch das einzige Land Südamerikas, mit dem Deutschland eine „strategische Partnerschaft"pflegt. Dies bringt ein enges Zusammenwirken auf höchster Ebene und Regierungskonsultationen mit sich. 2014 stand Brasilien wegen der erfolgreichen Durchführung der Fußball-Weltmeisterschaft im Mittelpunkt des internationalen Interesses, ganz besonders beim Gewinner Deutschland. Die Bundeskanzlerin war aus diesem Anlaß zweimal in Brasilien und führte dabei umfangreiche Konsultationen mit Präsidentin Dilma Rousseff durch, die nach der brasilianischen Verfassung Staats- und Regierungschefin ist (wie in den USA). Bundespräsident Gauck kam ebenfalls zur Fußball-Weltmeisterschaft, hatte aber Brasilien schon im Mai 2013 einen Staatsbesuch abgestattet, um eine Reihe von über 1000 Veranstaltungen zu eröffnen unter dem Motto: „Deutschland und Brasilien - wo Ideen sich begegnen". Dies hat mit Sicherheit viel dazu beigetragen, das Deutschlandbild in Brasilien zu vertiefen, das ohnehin schon durch die starke deutsche Einwanderung und unser massives wirtschaftliches Engagement fest verankert ist.

 

Rio de Janeiro (RJ) Christusstatue - Pedro Kirilos Riotur
Rio de Janeiro (RJ) Christusstatue - Pedro Kirilos Riotur

Aber auch in Deutschland verbindet die  Öffentlichkeit ganz überwiegend positive Vorstellungen mit Brasilien. Oft sind sie mit Fernweh verbunden. Ich war einer von vielen Jungen, die Amazonasforscher werden wollten. Mein Vater, der seine seemännische Ausbildung auf einem Segelschulschiff erhielt, erzählte uns, daß Rio de Janeiro als einer der drei schönsten Häfen der Welt gilt. Man hatte gleich den Zuckerhut, die alles berherrschende Christus-Statue (zu seiner Zeit ganz neu), den berühmten Strand der Copacabana vor Augen, aber auch den ausgelassenen Karneval und den Samba, der damals auch in Deutschland in Mode kam. Es dauerte dann noch 30 Jahre, bis ich das alles mit meiner Familie in Augenschein nehmen konnte;  alle Erwartungen von groß und klein wurden erfüllt. Früh hatte ich auch als Schuljunge von den zahlreichen deutschen Auswanderern im Süden Brasiliens mit dem Zentrum Blumenau gehört. Heute bewegt die deutsche Öffentlichkeit sehr stark das Thema „tropischer Regenwald", weil wir erkannt haben, welche Bedeutung seine Erhaltung für das Weltklima hat, darüber hinaus auch für das Schicksal der indianischen Ureinwohner. Die brasilianische Seite ist sich der Wichtigkeit dieses Themas bewußt, und es nimmt einen prioritären Rang in unserer Zusammenarbeit und den gemeinsamen wissenschaftlichen Forschunsprojekten ein.                                                                      

Rio de Janeiro (RJ) 1 - Michael Ruêf
Rio de Janeiro (RJ) 1 - Michael Ruêf

Mögen sich im öffentlichen Bewußtsein auch Klischees gebildet haben, Sympathie und Kenntnis des Partnerlandes sind nicht oberflächlich, sondern sie gehen auf ein festverwurzeltes Interesse und eine lange Geschichte zurück. Gerade rechtzeitig zum „deutschen Jahr" 2013 erschien in Sao Paulo ein Prachtband mit dem Titel „Fünf Jahrhunderte deutsch-brasilianische Beziehungen". Das klingt vielleicht ein wenig hochgegriffen. Aber es bestehen historische Ansatzpunkte.

Die großen Entdeckungen außerhalb Europas wurden von Spanien und Portugal aus betrieben. Columbus entdeckte Amerika 1492; schon 1494 kam durch den Schiedsspruch Papst Alexanders VI. der Vertrag von Tordesillas zustande, der im Prinzip Portugal die Beherrschung des Seewegs nach Indien um Afrika herum sichern sollte, Spanien jedoch den Weg nach Westen, wo man später den amerikanischen Kontinent erkannte. Zur Abgrenzung wurde eine Demarkationslinie festgelegt. Portugal gelang es in zähen Verhandlungen, sie so weit nach Westen zu verlegen, daß es bald darauf die atlantischen Küstenzonen des heutigen Brasilien mit ihrem Hinterland beanspruchen konnte: Bereits 1500 nahm der portugiesische Seefahrer Cabral dort Stützpunkte für seinen König in Besitz. Der Navigator seiner aus zwölf Schiffen bestehenden Flotte war der deutsche Astronom Johannes Varnhagen, genannt Meister Johann; außerdem sollen sich 35 deutsche Soldaten an Bord befunden haben. Erst ab 1532 setzte eine stückweise Besiedlung Brasiliens ein. In Deutschland wurden diese Entwicklungen mit Interesse verfolgt und auch kartographisch aufbereitet.

In der nun folgenden Kolonialzeit wurde das Land allmählich erschlossen. Dabei wurde eine Plantagenwirtschaft aufgebaut. Wichtigste Monokulturen waren zunächst das einträgliche Zuckerrohr, dann auch Tabak und schließlch der Kaffee. Ferner wurden tropische Hölzer gewonnen und exportiert. Seit 1693 wurden große Gold- und Diamantenvorkommen gefunden; in ihrer Umgebung schossen Ansiedlungen aus dem Boden. Das brachte Reichtum. Einen kurzfristigen Boom löste auch der Kautschuk aus, der aus dem Saft des brasilianischen Kautschukbaumes gewonnen wird, nachdem der Amerikaner Goodyear 1839 ein Verfahren entdeckt hatte, ihn zu Gummi zu verarbeiten. Die Stadt Manaos am Amazonas verdankte diesem Glücksfall eine kurze Periode von Reichtum und Luxus. Brasilien versuchte krampfhaft, das Monopol dafür zu halten. Aber 1876 gelang es britischen Schmugglern, Samen aus dem Land zu bringen und den Anbau in Südostasien zu bewerkstelligen. Damit waren die Tage des Booms gezählt.

Die Plantagenwirtschaft und die Ausbeutung der Gold- und Edelsteinvorkommen erforderten die Bereitstellung von billigen Arbeitskräften. Die einheimischen Indianer waren dafür nach Einschätzung der Kolonialherren nicht geeignet. Außerdem hatte der in Südamerika stark vertretene Jesuitenorden (vor seinem Verbot durch den Papst 1773) es sich zur Aufgabe gemacht, die Indianer zu schützen und zu fördern. 1753 erklärte ein Erlaß des portugiesischen Königs die Indianer in Brasilien für frei.

Anders war die Situation für die Schwarzen. Seit dem Beginn der Besiedlung wurden Sklaven aus Afrika nach Amerika gebracht. Die gesamte Zahl läßt sich nur schwer schätzen. Man geht von etwa  9-12 Millionen aus, von denen 5 Millionen auf Brasilien entfallen, 5 Millionen auf die Karibik, die übrigen hauptsächlich auf die Südstaaten der USA. Ihr Schicksal war überall schlimm. Die Sklaven in Brasilien kamen zu einem erheblichen Teil aus der portugiesischen Kolonie Angola, aber auch aus anderen Regionen Afrikas, z.B. aus dem Sudan.

Im Laufe der ersten drei Jahrhunderte nach der Entdeckung hatte Brasilien immer mehr Gewicht in dem von Portugal gegründeten weltweiten Reich gewonnen. Anfang des 19. Jahrhunderts entstand, ausgelöst durch die napoleonischen Kriege in Europa, die Unabhängigkeitsbewegung in Lateinamerika. Während Spanien nach der endgültigen Niederlage Napoleons um die Erhaltung seines Kolonialbesitzes kämpfte, nahm die Entwicklung in Brasilien einen glimpflichen Verlauf. 1807 war das portugiesische Königshaus vor Napoleon nach Brasilien geflüchtet. Der Schwerpunkt verlagerte sich nun noch stärker dorthin: 1815 wurde das „Vereinigte Königreich von Portugal, Brasilien und Algarve" gebildet. 1822 folgte die Unabhängigkeitserklärung Brasiliens unter Kaiser Dom Pedro, dem Sohn von König Johann VI. von Portugal. Während die anderen lateinamerikanischen Staaten - außer Kuba, das bis 1901 spanische Kolonie war - Republiken wurden, blieben Brasilien die Monarchie und die Dynastie (das Haus Braganca) erhalten.  Außenpolitisch fühlte man sich Großbritannien       verbunden, weil es dem Königshaus 1807 bei der Rettung über See geholfen hatte. Die Briten waren auch als Handelspartner von großer Bedeutung. Sie achteten sehr darauf, daß in Brasilien keine Industrieproduktionen aufgebaut wurden, die ihren Erzeugnissen Konkurrenz gemacht hätten; aber sie waren sie waren die Hauptabnehmer der brasilianischen Exporte aus der Plantagenwirtschaft, die eng mit der Sklavenhaltung verknüpft war. Andererseits machte sich England im 19.Jahrhundert zum Vorkämpfer der Sklavenbefreiung, auch in Brasilien. Der brasilianische Kaiser setzte sich ebenfalls dafür ein, während sich die Großgrundbesitzer heftig dagegen stemmten. Dies führte zu einem ständigen Konflikt. Die Großgrundbesitzer verbündeten sich deshalb  mit den starken republikanischen Kräften. So wurde die Abschaffung  der Sklaverei (1888) der Auslöser für die Ausrufung der Republik 1889.

Bahia_Salvador da Bahia Pelourinho - Christian Knepper - Embratur
Bahia_Salvador da Bahia Pelourinho - Christian Knepper - Embratur

Die Probleme der Plantagenwirtschaft und die starke Abhängigkeit vom Exportprodukt Kaffee (zeitweilig 2/3 der Exporterlöse) führten Anfang des 20. Jahrhunderts zu Strukturkrisen, verbunden mit politischen Unruhen. Präsident Vargas (1930-1945 und 1950-1954) versuchte, die innere Lage durch eine autoritäre Herrschaft zu stabilisieren. Er wurde schließlch durch das Militär gestürzt. Seine linksgerichteten Nachfolger gerieten in Gegensatz zu den USA. Wie fast überall in Lateinamerika übernahm für längere Zeit das Militär direkt die Regierung (1964-1985); der Übergang war am Anfang und am Ende fließend: General Castello Branco wurde 1964 noch vom Nationalkongreß zum Präsidenten gewählt, und 1985 wurden nach der vorsichtigen Öffnung für eine Zivilregierung wieder freie Präsidentenwahlen durchgeführt. Heute sind im Parlament etwa 15 politische Parteien vertreten. Es ist stark zersplittert. Für den europäischen Beobachter gilt die Faustregel: die Parteien stehen weniger weit links, als ihre Namen vermuten lassen. (Das ist ncht überall in Lateinamerika so; in Chile ist es z.B. eher umgekehrt.) Die gegenwärtige Präsidentin Dilma Rousseff gehört wie ihr Vorgänger Lula da Silva (2003-2010) der Arbeiterpartei an, die im Parlament nur über 20% der Sitze verfügt. Dabei übt eine Regierungsbeteiligung durchaus magnetische Wirkung auf Abgeordnete anderer Fraktionen aus. Im innenpolitischen Kampf spielen gegenseitige Korruptionsvorwürfe eine große Rolle, nicht nur auf dem Gebiet der Parteienfinanzierung. Andererseits vermeidet der vorherrschende Pragmatismus das Austragen heftiger ideologischer Konflikte.

Auch rassistische Gegensätze und Vorurteile spielen nicht die Rolle, die man angesichts der historischen Bürde aus der langen Zeit der Sklaverei vermuten könnte. Hier ist ein anderer Aspekt des portugiesischen Erbes von Bedeutung: Im lusitanischen Kolonialreich wurde nie eine so scharfe Rassentrennung betrieben wie in anderen europäischen Imperien oder den USA. Brasilien hat diese Grundhaltung übernommen. Heute sind etwa 50% der 200 Millionen Einwohner europäischer, 43% europäisch-afrikanischer und 6% afrikanischer Abstammung. Die Indianer stellen nur noch 0,4%. Ein buntes Bild herrscht bei der Religion. Die katholische Kirche, die bis ins 19.Jahrhundert den Anspruch auf Ausschließlichkeit erhob, zählt heute nur noch 65%. Da sie unter einem gewaltigen Personalmangel leidet, graben ihr Freikirchen, die oft großzügig aus den USA unterstützt werden, leicht das Wasser ab (z.B.Pfingstler, 13%). Daneben sind fast alle Religionen der Welt vertreten, auch indigene und ursprünglich afrikanische Kulte (Voudou). Nur 8% bekennen sich als religionslos. Aber bei all dem ist Brasilien noch immer das größte katholische Land, wenn auch ein Sorgenkind Roms. Die Befreiungstheologie, die vom Vatikan mit großer Skepsis begleitet wurde, ist seit den 1960er Jahren in ganz Lateinamerika entstanden; die ersten Anstöße kamen aber aus Basisgemeinden in Brasilien. In den Anfängen warf man der Richtung nicht ohne Grund vor, eine Synthese zwischen Christentum und Marxismus zu betreiben. Inzwischen hat aber gerade einer ihrer führenden Köpfe, der brasilianische Theologieprofessor Clodovis Boff, begonnen einzulenken, und Papst Franziskus ist auf seiner Südamerikareise 2015 deutlich auf ihre gesellschaftspolitischen Anliegen eingegangen.

IV :

Die Strukturkrisen, die Zersplitterung der politischen Landschaft und die religiösen Divergenzen habenjedenfalls das Wachstum Brasiliens nicht wesentlich behindert. Im II. Weltkrieg hat das Land durch die verstärkte Nachfrage nach seinen Produkten - wie auch andere lateinamerikanische Staaten - einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und darüber hinaus wegen ausbleibender Lieferungen der kriegführenden Mächte einen Schub zur Industrialisierung (auch Schwerindustrie) erhalten. Seitdem hat sich die Bevölkerung mehr als vervierfacht. In den letzten Jahren ist die jährliche Zuwachsrate allerdings auf 1% zurückgegangen.

Wie in allen Schwellenländern war das Wachstum der Großstädte besonders markant. Sao Paulo liegt mit 11,2 Millionen Einwohnern (Großraum 20 Millionen) an der Spitze, gefolgt von der früheren Hauptstadt Rio de Janeiro mit 6,3 Millionen, der ursprünglichen Hauptstadt Salvador (früher auch Bahia genannt) mit 2,7 Millionen; dann erst kommt die neue Hauptstadt Brasilia mit 2,5 Millionen. Insgesamt hat Brasilien heute 15 Millionenstädte.

Bahia Salvador Pelourinho - EMBRATUR
Bahia Salvador Pelourinho - EMBRATUR

V:

Das Bruttoinlandsprodukt steht mit über 2 Billionen (2000 Milliarden) US-$ an 7.Stelle in der Welt. 2004-2011 betrug das durchschnittliche jährliche Wachstum noch 5%. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise sind die Wachstumsraten aber erheblich eingebrochen. Dennoch bleibt Brasilien für Deutschland ein erstrangiger Wirtschaftspartner. Der Ballungsraum Sao Paulo ist der größte deutsche Industriestandort weltweit (mit etwa 900 deutschen Unternehmen). Unsere Direktinvestitionen belaufen sich auf 25 Mrd US-$. Deutsche Unternehmen sind verantwortlich für 10% der industiellen Wertschöpfunng in Brasilien. Darunter finden sich fast alle großen Namen. Zwei Hauptsymbole des deutschen „Wirtchaftswunders" der Nachkriegszeit wanderten nach Lateinamerika aus: wie der VW-Käfer nach Mexiko, so der VW-Bulli (Bus 72) nach Brasilien. Dort wurde er 56 Jahre lang gebaut, von 1957-2013, während die Produktion in Deutschland schon 1979 eingestellt wurde.

Gewiß gab es bei dem breiten Engagement nicht nur Erfolgsgeschichten: Thyssen-Krupp baute mit einem riesigen Stahlwerk in der Nähe von Rio de Janeiro ein Grab für viele Milliarden Euro, das den Konzern ins Schlingern brachte. Siemens wurde in Brasilien in einen unangenehmen Prozeß über Schmiergeldzahlungen verwickelt und durch  Gerichtsurteil für fünf Jahre von öffentlichen Aufträgen im Lande ausgeschlossen. Aber: in Umkehr des Sprichworts - wo viel Schatten ist, ist auch viel Licht. Brasilien bleibt eines der Schwerpunktländer für deutsche Auslandsinvestitionen, die gute Aussichten für die Zukunft versprechen. Das Land bezieht z.B. schon heute 90% seines Strombedarfs aus erneuerbaren Quellen. Es ist der größte Produzent von Wasserkraftwerken, aber auch der drittgrößte Hersteller von Flugzeugen in der Welt. Die  deutschen Ausfuhren übertreffen allerdings noch immer deutlich unsere Einfuhren (2013 beliefen  sie sich auf 11,4 Mrd gegenüber 9 Mrd €). Seitdem gab es bei beiden Posten einen Rückgang. Mit dem Absinken des Euro-Kurses gegenüber dem Dollar werden die Karten ohnehin neu gemischt. Die kritischen Entwicklungen in Europa, besonders um Griechenland, haben jedenfalls einmal mehr gezeigt, wie wichtig für Deutschland das Potential seiner Handelsbeziehungen nach Übersee ist.

Brasiülia Catedral 1 - Embratur
Brasiülia Catedral 1 - Embratur

VII:

Die deutsche Einwanderung bietet neben der starken wirtschaftlichen Präsenz einen guten Resonanzboden für den blühenden Kulturaustausch zwischen beiden Ländern. Er wird durch fünf Goethe-Institute in Sao Paulo, Rio de Janeiro, Salvador, Porto Alegre, Curitiba und das Goethe-Zentrum in Brasilia gefördert. Vier deutsche Auslandsschulen führen bis zum Abitur, drei davon in Sao Paulo (die größte hat etwa 10.000 überwiegend brasilianische Schülerinnen und Schüler), eine in Rio. Hinzu kommen 17 weitere deutsche Auslandsschulen, die nicht bis zur Reifeprüfung gehen. Über 17.000 Studenten und Wissenschaftler haben von 2005-2013 in beiden Richtungen DAAD-Stipendien genutzt. Das Deutschlandjahr 2013 brachte einen Höhepunkt an Gastspielen, Tourneen, Konzerten und anderen kulturellen Veranstaltungen.

Brasilien ist für uns ein erstrangiger Partner bei der bilateralen wissenschaftlichen Zusammenarbeit, in der alle namhaften deutschen Forschungseinrichtungen mitwirken. Es gibt über 500 Universitätspartnerschaften, darunter viele hochbestückte gemeinsame Forschungsprojekte.

VIII.

Eine derart breit angelegte und zugleich intensive Zusammenarbeit beansprucht beide Seiten gleichermaßen. Sie bestimmt den hohen Arbeitsanfall der Botschaften in Berlin und Brasilia sowie der Generalkonsulate Frankfurt a.M., München auf der einen und Porto Alegre, Recife, Rio de Janeiro, Sao Paulo auf der anderen Seite. Sie werden unterstützt durch eine hohe Zahl von Wahlkonsulaten: 8 brasilianische in Deutschland und 14 deutsche in Brasilien. Die Deutsch-Brasilianische Handelskammer in Sao Paulo hat ebenfalls ein außergewöhnlich stark ausgebautes Netzwerk von 9 Zweigstellen im ganzen Land.

 Aber eine enge Verflechtung kann immer noch enger werden.Eine besondere Breitenwirkung entfaltet dabei der Sport. Dies hat die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 gezeigt. 2016 wird Brasilien erst  recht im Mittelpunkt stehen, wenn im August die XXXI. Olympiade in Rio de Janeiro stattfindet. Dann wird die Botschaft in der Wallstraße bestimmt einem Bienenstock gleichen.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           

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Fotos: mit freundlicher Unterstützung der Brasilianischen Botschaft und Dietrich Lincke

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