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Friedrich W. Kantzenbach
Wüsst ich Dinge leicht wie Luft

Dieses Gedichtsbändchen ist liebevoll gestaltet und mit Fotos versehen. Es wendet sich an Leser, die bereit sind, aufmerksam hinzuhören und sich einzulassen auf die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Schicksal.

Sigurd Binski

Sigurd Binski

Prof. Dr. phil. habil. Gerald Wiemers

Binskis 100.Geburtstag

Nur sehr zögerlich gibt Sigurd Binski eigene biografische Daten preis. In schwerer Zeit sind es seine Eltern, die nach seinem scheinbar spurlosen Verschwinden am 30.März 1951 in wenigen Briefen an das Ministerium des Innern der DDR um Aufklärung bitten. Die Aufklärung bestand darin, dass die Briefe an die Staatssicherheit weitergeleitet wurden. Binski entstammt einem seit Jahrzehnten sozialdemokratisch geprägten Elternhaus, geboren am 18.Februar 1921 in Berlin. Sein Vater Friedrich ist von den Nazis gemaßregelt worden. In seinem Heimatort Tiefensee wird Friedrich Binski bald nach 1945 Direktor der Schule, Mitglied der SED und Vorsitzender der Gemeindevertretung. Wie so viele seiner Generation mag er an einen neuen, sozialistischen Aufbruch geglaubt haben. In diesem Sinne versucht er, seinen Sohn Sigurd zu beeinflussen. Das Neue sollte sich aber schon bald als das Alte entpuppen. Jahrzehnte später stellt Sigurd Binski den Sozialismus als Gesellschaftsform an sich infrage.

Dr. Hennig um das Jahr 1982
Dr. Hennig um das Jahr 1982

Nach einer guten Schulausbildung in Tiefensee und Bad Freienwalde wird Binski 1939 zur Wehrmacht eingezogen. Immerhin hat er noch das Abitur an der Realschule ablegen können.

Seit April 1946 ist er in einem Sägewerk in Rüthen an der Möhne im Sauerland beschäftigt, bis er nach Bonn geht und dort von 1946 bis 1951 im Hauptfach Psychologie studiert. Am 15.Mai 1950 besteht er die Diplom-Vorprüfung für Psychologen. Daneben ist Binski seit Juni 1948 in einem Marxistischen Studentenzirkel an der Universität Bonn tätig. Die Gruppe wollte nicht eng parteipolitisch tätig werden, „sondern sich kritisch mit dem Marxismus als Idee auseinandersetzen.“

Als Binski vom 27. bis zum 30.März 1951 in Tiefensee seine Eltern besuchte, hat er mit seinem Vater über den Abschluss seiner Dissertation in Bonn und über seine fernere wissenschaftliche Zukunft gesprochen. Früh brach er am 30.März auf, um in Ostberlin, Stargarder Straße, seine Tante Grete Dietze, die Schwester seines Vaters, zu besuchen. Dort ist er nie angekommen. Ein Bekannter teilte später mit, er habe Sigurd Binski am Alexanderplatz aussteigen sehen. Es ist der Tag seiner Verschleppung. „Sigurd Binski“, so sein Mitgefangener und lebenslanger Freund Horst Hennig, „wurde mit zehn Jahren Fernurteil im Gefängniswagen von Berlin Lichtenberg nach Workuta auf Transport geschickt.“ Das „Urteil“ hatte ein Sowjetisches Militärtribunal (SMT) am 30.März 1951 gefällt. Binski beschreibt die „Reise“ vom 30.März 1951 bis 15.Oktober 1955 nach Workuta und auf Umwegen zurück mit der Nennung der Stationen: Berlin-Karlshorst, Berlin-Lichtenberg, Workuta, Kirow, Swerdlowsk, Nowosibirsk (Sibirien), Rewda bei Swerdlowsk, Friedland.

 Arbeitslager Workuta
Arbeitslager Workuta

Die Rückkehr von Binski in die Bundesrepublik Deutschland, in das normale bürgerliche Leben, gestaltete sich, wie für alle politischen Häftlinge aus sowjetischer Gefangenschaft schwierig und doch erfolgreich. Unter den „Workutanern“ haben es einige zu Professuren in der Bundesrepublik Deutschland gebracht, so Hans Günter Aurich, Werner Gumpel, Siegfried Jenkner, Werner Sperling oder Hans-Dieter Scharf. Andere absolvierten gleichfalls ein erfolgreiches Berufsleben, wie Otto Bachmann als Finanzdirektor bei Ford (USA), Peter Eberle als Zahnarzt in der Schweiz oder Horst Hennig als Generalarzt der Bundeswehr.

Binski arbeitet vorübergehend als freier Journalist. Vor allem ist er tätig in der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS). Er setzt sich für die politischen Häftlinge in der DDR ein und betreut Entlassene und Hinterbliebene. Schon bald gehört er zum erweiterten Vorstand der VOS und zur Redaktion der Zeitschrift „Freiheitsglocke“, die er über 30 Jahre ehrenamtlich, erfolgreich leitet. Zusammen mit Horst Schüler begründet er 1957 die Lagergemeinschaft Workuta, die zu einem festen Bestandteil der VOS wird.

Sigurd Binski, Heini Fritsche, Horst Hennig und Alfred Segeth, aufgenommen anlässlich des 65.Geburtstages von Horst Hennig am 28.Mai 1991  in Köln. Vier Überlebende aus dem Schacht 29, Lager Nr. 10 in Workuta, die zusammen zu über 100 Jahren Zwangsarbeit  verurteilt waren.
Sigurd Binski, Heini Fritsche, Horst Hennig und Alfred Segeth, aufgenommen anlässlich des 65.Geburtstages von Horst Hennig am 28.Mai 1991 in Köln. Vier Überlebende aus dem Schacht 29, Lager Nr. 10 in Workuta, die zusammen zu über 100 Jahren Zwangsarbeit verurteilt waren.

Als Sigurd Binski im Dezember 1993 überraschend starb, war das für seine Familie und für die Zeitschrift „Freiheitsglocke“ ein Einschnitt, der nur schwer zu verkraften war. Binski war die „Freiheitsglocke“ und die „Freiheitsglocke“ war Binski. Über Jahrzehnte hat er die Zeitschrift, das Organ der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) geleitet und selbst über 200 Beiträge geschrieben. „Allen Bundesvorständen der VOS war er seit 1956 ein nicht immer bequemer, aber stets kompetenter, sachkundiger Berater“, heißt es in einem Nachruf. Sein Wort galt. Er hat das sowjetrussische Lagersystem in Workuta viereinhalb Jahre erlebt, die rote Sklavenarbeit im Bergbau unter Tage mühsam überlebt und ein Stück des real existierenden Sozialismus ausgestanden. Höhepunkt war zweifellos der große Streik vom 1.August 1953 in Lager 10, Schacht 29, in Workuta, den Binski mit organisiert hat. Der große Streik in Lager 10, Schacht 29, vom 1.August 1953 in Workuta hat Binski nicht wieder losgelassen. Er wird zum ersten Chronisten dieses noch weithin unbekannten Ereignisses. Gleich nach seiner Rückkehr nach Deutschland veröffentlichte er in der Haspener Zeitung 1955/56 eine erste Fassung in 12 Fortsetzungen. Danach folgte am 6. August 1956 in der „Freiheitsglocke“ eine weitere, überarbeitete Ausgabe: „Workuta – Der große Streik“, der 64 politischen Häftlingen durch Schüsse der Bewacher das Leben kostete und 123 wurden zum Teil schwer verletzt, darunter Heini Fritsche.

Wenn die Geschichte der deutschen Einheit aus einem gewissen Abstand geschrieben wird, können die Beiträge von Sigurd Binski ein Baustein, eine Quelle sein. Sie sind zuverlässig recherchiert und behandeln alle wichtigen Geschehnisse in seiner Zeit, fast über ein halbes Jahrhundert. Binski musste sich nicht verbiegen und hat sich nicht verbogen. Er kritisierte Kritikwürdiges. Immer wiederkehrendes Thema war die finanzielle Ungleichbehandlung zwischen Holocoust- und GULag-Opfern. Die Arbeitslosigkeit im demokratischen Rechtsstaat hat er verworfen, ohne der Planwirtschaft im Osten das Wort zu reden. Mit der marxistischen Weltanschauung hat er sich wiederholt auseinandergesetzt, eine Diktatur grundsätzlich abgelehnt, so auch die „Diktatur des Proletariats“. Der Sozialismus bedeutet für ihn in seiner Realität ein gehöriges Maß an Unfreiheit. Voraussagen, wie sie Chrustschow in den 60er Jahren traf, sind allesamt nicht eingetroffen. Im Gegenteil: das sozialistische Lager geht zugrunde, vorwiegend an der Nichteinhaltung der Menschenrechte. Ein Rest bleibt. Binski stimmt nicht ein in mancherlei Triumph. Er sieht die großen Schwierigkeiten, menschliche Tragödien und chaotische Verhältnisse, die es zu bewältigen galt. Die Deutsche Einheit hat ihren Preis und ist längst nicht vollendet. Anfang der 90er Jahre warnt er vor illegalen Einwanderungen nach Deutschland. Außen- und innenpolitische Tatbestände legte er offen, stellte sie dar, versuchte sie zu erklären und die Hintergründe zu analysieren. Politische Gegenwartsfragen behandelte Binski aus seiner konservativen Grundhaltung klar und ohne Umschweife. Er muss nicht theoretisieren. Die kommunistische Lagerhaft hat ihn geprägt. Unmittelbar hat er den real existierenden Sozialismus täglich, über viereinhalb Jahre, erfahren. Demokratie und Freiheit sind für ihn feste Größen im menschlichen Zusammenleben; die Wahrung der Menschenrechte eine Voraussetzung.


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Bildquellen:

Vorschaubild: Dr. Sigurd Binski, 1985 Quelle: Familienbesitz

Aufnahme von Generalarzt Dr. Hennig um das Jahr 1982, Quelle: Nachlass Hennig via Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0.

The Vorkuta industrial concentration camp complex, zwischen 1940 und 1945, Urheber. unbekannt via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0.

Sigurd Binski, Heini Fritsche, Horst Hennig und Alfred Segeth, aufgenommen anlässlich des 65.Geburtstages von Horst Hennig am 28.Mai 1991 in Köln. Vier Überlebende aus dem Schacht 29, Lager Nr. 10 in Workuta, die zusammen zu über 100 Jahren Zwangsarbeit verurteilt waren. Quelle: Nachlass Hennig in Köln

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