Der gebürtige Berliner Gustav Stresemann war ein hoch befähigter Politiker in einer Zeit, in der solche Begabungen nur wenig Chancen hatten, zur Entfaltung zu kommen. Die Weimarer Republik, deren Reichskanzler er vom August bis November 1923 und deren Außenminister er von 1923 bis zu seinem Tod im Jahr 1929 war, wurde geprägt durch ein Wirrwarr von politischen Strömungen, Ideologien und Machtinteressen. Die neun Reichstagswahlen in den knapp 14 Jahren ihres Bestehens (1919 - 1933) brachten jeweils zwischen 8 und 15 Parteien ins Parlament. Deren unterschiedliche Ziele ließen sich größtenteils nicht miteinander verbinden und tragfähige Koalitionen kamen nicht zu Stande Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass es Stresemann als Vorsitzendem der nicht sehr großen liberalen Deutschen Volkspartei (DVP) gelang, während seiner 6 Jahre als Außenminister eine auf Frieden, Ausgleich und Verständigung zielende Politik zu betreiben.
Im Versailler Vertrag von 1919 war das Deutsche Reich nach dem 1. Weltkrieg verpflichtet worden, hohe Reparationen an die Siegermächte zu zahlen. Als es diesen Verpflichtungen nicht in voller Höhe nachkam, besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet. Dem begegnete die deutsche Bevölkerung mit Boykottmaßnahmen und im Reichstag und der Öffentlichkeit musste, wer dem nicht zustimmte, sich als „Erfüllungspolitiker" brandmarken lassen. Stresemann lehnte dennoch einseitige deutsche Protestmaßnahmen ab und setzte auf Verhandlungen vor allem mit Frankreich. In vielen Begegnungen und Gesprächen gelang es ihm, die außenpolitische Isolierung des Deutschen Reichs aufzubrechen und mit den früheren Feindstaaten zu diplomatischen Verständigungen zu kommen. Unter anderem erreichte er die Aufnahme des Deutschen Reichs in den Völkerbund (1926) und die vorzeitige Räumung des besetzen Ruhrgebiets (1930). In den Jahren zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg war Stresemann der weltweit am meisten geachtete deutsche Politiker.
Sein früher Tod 1929 und die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 ließen das sorgsam aufgebaute Vertrauen wieder schwinden. Viele Millionen Menschen mussten dafür im 2. Weltkrieg mit ihrem Leben bezahlen.
P.S.: Auch in der Modewelt hat Gustav Stresemann Spuren hinterlassen. Laut Duden ist ein „Stresemann" „ein bestimmter Gesellschaftanzug", d. h. ein zugleich bequemer und vornehmer Herrenanzug.
Florian Russi schreibt über Stresemann*:
1926 erhielten der französische Außenminister Briand und der deutsche Außenminister Gustav Stresemann (1878-1929) gemeinsam den Friedensnobelpreis. Damit wurde das Bemühen der beiden Politiker gewürdigt, die feindseligen Beziehungen, die damals zwischen Deutschland und Frankreich herrschten und den Frieden in Europa gefährdeten, durch Abkommen zu verbessern. In den sog. Locarno-Verträgen verzichteten Frankreich und Deutschland (und ebenso Belgien) auf eine gewaltsame Veränderung ihrer gemeinsamen Grenzen. Es war dies der erste Versuch einer friedlichen Nachbarschaft zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Weltkrieg. Leider blieb er erfolglos. Jedoch konnten sich spätere Politiker daran orientieren und die schädliche alte "Erbfeindschaft" zwischen Deutschen und Franzosen in eine enge und dauerhafte Zusammenarbeit umwandeln (s. u.).
*Florian Russi: Worauf wir stolz sein können. Eine Recherche. Bertuch Verlag, Weimar, 2. Aufl. 2005.