Berlin-Lese

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Weihnachten bei Familie Luther

Christoph Werner

Luthers jüngster Sohn erzählt vom Christfest

Paul Luther, der jüngste Spross der Lutherfamilie, gewährt dem Leser Einblick in sein Leben und das seiner Familie.
Er berichtet von seiner Kindheit in Wittenberg und der Krankheit seines Vaters, von seiner Verwicklung, die ihm als Leibarzt widerfuhren, und von den Intrigen am Gothaer Hof. Reichlich illustriert öffnen sie dem Leser die Tür zur Weihnachtsstube der Familie Luther.

Der Geisterbahnhof

Der Geisterbahnhof

Manfred Meier

Wer vor einigen Jahrzehnten den wunderlichsten Bahnhof der Welt kennen lernen wollte, der musste nach Ostberlin reisen. Schon solche Bezeichnung des Reiseziels galt als unerwünscht in höchstem Maße, als Ausdruck politischer Verhetzung. Es handelte sich vielmehr, so wurden Ahnungslose von streng skandierenden Uniformierten sogleich belehrt, um den demokratischen Sektor von Berlin, später dann ausschließlich um die Hauptstadt der DDR. Aber nicht von solchen Wortklaubereien wollte ich erzählen, sondern von einem kuriosen Bahnhof - sofern er diese Titulierung überhaupt verdiente.

Also das ging so: Ein Zug aus Prag oder Dresden oder Leipzig oder von irgendwo anders aus südlicher Richtung rollte auf Berlin zu und hielt an einer Station, die keine war, wie sich sogleich zeigte. Noch quietschten die Bremsen, da dröhnte es schon aus den Lautsprechern: „Berlin-Schönefeld. Das Ein-, Aus- oder Umsteigen ist nicht gestattet." Wenigstens aus dem Fenster durfte man schauen. Und da bot sich eigentlich ein fast normales Bild: Ein Bahnsteig, auf dem Männer und auch vereinzelt Frauen umherliefen, die meisten von ihnen freilich uniformiert - als Polizisten, Zollkontrolleure und Angestellte der Bahn. Es gab auch einige Zivilisten zu sehen, aber die blickten streng und misstrauisch drein und waren im harmlosesten Falle Kriminalisten.

Jeder Uneingeweihte musste sich wundern. Was war das für ein Bahnhof, den ein Reisender nicht betreten durfte? Sah man wirklich mal einen Menschen mit einem Koffer auf dem Bahnsteig, so fand er sich in Begleitung, auch Bewachung zu nennen. Und jeder Zuschauer ahnte: Da hatten sie einen „erwischt" - bei unerlaubter Einreise, mit unzureichenden Papieren ausgestattet, vielleicht gar mit Schmuggelware im Gepäck.

Ja, aber, so wird nun jeder Leser und Zuhörer fragen: Was hatte es denn mit diesem sonderbaren Bahnhof auf sich, der doch eigentlich von der Bahn, die damals sonderbarerweise immer noch Deutsche Reichsbahn hieß, einst als Haltestation für Reisende installiert worden war. Und nun muss ich doch von Sektoren und dergleichen politischen Merkwürdigkeiten erzählen.

Berlin war bekanntlich nach dem - hoffentlich letzten - Krieg von den Siegermächten gevierteilt worden, in vier so genannte Sektoren, die eigentlich keine waren, wie jeder Mathe-Schüler leicht beweisen kann, wenn er bei Geometrie gut aufgepasst hat. Das waren vielmehr Verwaltungsgebiete, die von der jeweiligen Besatzungsmacht befehligt wurden. Und so ergab es sich, dass die Sektoren der westlichen Mächte, später auch einfach Westberlin genannt, sich mitten in der sowjetischen Besatzungszone befanden, also im Staatsgebiet der 1949 gegründeten DDR. Und da sich deren Machthaber stets umzingelt fühlten vom Klassenfeind und jeden Touristen misstrauisch musterten, gab es eine Reihe von zuweilen auch wechselnden Vorschriften, wer wann und unter welchen Bedingungen die Stadtgrenze überschreiten durfte.

Vor allem aber die Grenzen ins Umland waren fast unüberwindbare Hürden, als die Mauer noch gar nicht gebaut war. Jede Autozufahrt nach dem östlichen, demokratisch genannten Berlin war durch Kontrollstellen gesichert, und nur als DDR-Bürger mit entsprechendem Ausweis oder Reisepass durfte man einigermaßen angstfrei diese Grenze passieren.

Folgerichtig hatten die Machthaber jene Grenzstation am Stadtrand zur Tabuzone erklärt, zu einem Bahnhof der absurden Dimension. Jeder Zug, der Berlin zum Ziel hatte oder der Berlin verließ, hielt hier für einige Zeit. Aber da in Schönefeld auch niemand zusteigen durfte, musste beispielsweise ein Bewohner dieses durch seinen Flughafen bekannten Ortes, sofern er nach Leipzig reisen wollte, erst mit der Stadtbahn ins Zentrum fahren, auf dem dortigen Ostbahnhof in den Zug steigen, und eine knappe halbe Stunde später konnte er dann aus dem Abteilfenster auf eben jenen Ort schauen, in dem er wohnte. Die Rückfahrt gestaltete sich ebenso umständlich. Man fuhr gewissermaßen, wie der Volksmund so schön albern zu formulieren pflegt, einmal mit der Kirche ums Dorf.

Der Zustand währte jahrzehntelang. Ich habe einfach vergessen, wann hier wieder so etwas wie Normalität eintrat. Heute bauen sie in Schönefeld - auch wenn die Anwohner das gar nicht so gern sehen und vor allem hören - den Großflughafen für Berlin, der seinerzeit übrigens, obwohl er schön abseits am Stadtrand lag, Zentralflughafen tituliert wurde. Aber mit solchen Formulierungen lagen sie damals infolge von Großmannssucht häufig krass neben der Wirklichkeit. Der kleine, demokratisch genannte Teil Berlins beispielsweise, also das östliche Tortenstück der Stadt, wurde verwaltet durch einen Magistrat von Groß-Berlin, obwohl jeder Blick auf die Landkarte das Viertelchen als kleinen Teil des einstigen Berlin erkannte.

Ein Bahnhof, der keiner ist; ein Zentralgebilde, das am Rande gelegen ist; ein kleines Teilstück, das zum großen erhoben ward - all das sind politische und geistige Verrenkungen eines zum Glück verschwundenen Staates, den man gern Absurdistan nennen möchte, hätte man nicht Jahrzehnte hindurch dort gelebt, ohne den Verstand einzubüßen.

 

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