Berlin-Lese

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Reden wir von der Liebe

Florian Russi (Hrsg.)

Liebe ist ein Thema, das jeden berührt...Ein manchmal ernüchterndes und zugleich poetisches Buch.

Tschaikowski in Berlin

Tschaikowski in Berlin

In seinem „Symphonie Pathetique“ beschreibt Klaus Mann den russischen Komponisten Peter Iljitsch Tschaikowski als rastlosen und von Selbstzweifeln geprägten Menschen, der es nicht lange zuhause, aber auch nicht gut auf Reisen aushält.
Das Buch entstand in nur wenigen Monaten im Jahr 1935. Der gerade mal 27-jährige Klaus Mann war zu dieser Zeit staatenlos und lebte zwischen Paris, Amsterdam und Küsnacht. Im August 1934 hatte er die Möglichkeit wahrgenommen, Moskau zu besuchen. Die Direkterfahrung der russischen Kultur und sein eigenes Befremden gegenüber dem politischen Geschehen im deutschen Reich waren neben der Homosexualität wohl Gründe, die ihn zum Sujet Tschaikowski führten.
Der Roman beginnt in Berlin, wo Tschaikowski Ende des Jahres 1887 auf der Durchreise von Petersburg nach Leipzig verweilte, bevor er seine erste große Konzerttournee im Leipziger Gewandhaus startete.

Tina Romstedt

Unter den Linden um 1850
Unter den Linden um 1850

Die erste Ausfahrt Peter Iljitschs, bei jedem seiner Aufenthalte in Berlin, galt dem Tiergarten. Es war der Flecken er Hauptstadt, den er am liebsten mochte, oder wenigstens am wenigsten hasste. Es war die einzigste Stelle in dieser gewaltigen Kapitale, wo er sich ein wenig zu Hause fühlte; das übrige Berlin blieb ihm fremd, so oft er auch schon hier gewesen war.
Der Wagen bog von der Friedrichstraße in die breite Prunkavenue Unter den Linden ein. Es lag ein leichter gefrorener Schnee, auf dem die Tritte der Passanten und die Wagenräder lustig knirschten. Auf dem Schnee blitzte die Sonne, es war ein herrlicher Tag. Die breite Galastraße zeigte wie im Triumph ihre repräsentative Schönheit. Dem Brandenburger Tor, das den wuchtigen Abschluss der glanzvollen Perspektive bildete, sah man an: Es war eigens dafür gebaut, siegreiche Truppen durch seinen Bogen marschieren zu lassen, unter Trompetengeschmetter und Trommelgedröhn. Was für eine Paradestraße! Es war deutlich: Sie selbst und alle, die auf ihr gingen – rüstige Herren und Damen, aber auch die Armen und ein wenig Gebückte, die weniger auffielen – genossen ihren Glanz, der noch verschönt wurde durch Sonnenlicht und blitzenden Schnee. Was für eine Stadt! Die wahre Hauptstadt für dieses triumphierende Land – das gefürchtetste Land des Erdteils, dem niemand ganz traute das keiner ganz liebte, aber mit dem alle rechnen mussten.
Der fremde Herr in der Droschke – Peter Iljitsch Tschaikowsky aus Moskau – war beunruhigt durch diese harte, aggressive Schönheit; sie hatte – fand er – viel Bedrohliches. ‚Ach diese Deutschen!‘, dachte er noch einmal. ‚Es ist ja sehr nett von ihnen, dass sie mich eingeladen haben, bei ihnen zu dirigieren, und es ist sehr anerkennenswert, dass sie sich so stark für Musik interessieren. Aber wie sie aussehen! Nein, wie sie alle aussehen.‘

Brandenburger Tor um 1850
Brandenburger Tor um 1850

Er schaute mit einem Blick, der wehmütig und etwas ängstlich war, durchs Wagenfenster. ‚Jeder von ihnen ist ein kleiner Bismarck!‘, dachte Peter Iljitsch aus Moskau. Mehr eingeschüchtert als höhnisch, musterte er die martialischen Mienen der Männer: Gesträubter Schnurrbart, buschige Augenbrauen und eine drohende Entschlossenheit des Ausdrucks verliehen ihnen entschieden viel Angst-Einflößendes. Ein erheblicher Teil von ihnen trug Uniformen, man meinte, sie wollten jeden Augenblick den Säbel ziehen. Den Damen warfen sie unternehmungslustige und flotte Blicke zu; die ihrerseits gingen erhobenen Hauptes, jede eine Germania, im vollen Bewusstsein ihrer unantastbaren Würde, den großen Pelzmuff trugen sie wie eine Trophäe vor sich her. […]
Die Droschke fuhr über die blitzende Weite des Pariser Platzes. Das triumphal geöffnete Brandenburger Tor nahm sie auf. Drüben rollte der Wagen auf der trockenen Schneeschicht in gleichmäßigem Tempo weiter. Das war der Tiergarten. […]

***

Auszug aus: Klaus Manns „Symphonie Pathétique. Ein Tschaikowsky-Roman“. Erstausgabe im Querido-Verlag, Amsterdam 1935.

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