Als ich auf dem Friedhof der französischen Gemeinde das Grab Ludwig Devrients besuchte und vor dem efeuumsponnenen Hügel und dem eisernen, schlichten Denkmal stand, gesellte sich in Kirchhofsangestellter, vielleicht ein Gärtnerbursche oder Totengräberaspirant, zu mir und bot mir in unverfälschtem Berlinerisch an, mir „det Jrab von der Ollen" zu zeigen. Und als ich ihn fragend anblickte, munterte er mich mit einer einladenden Bewegung, über die nur ein echtes Kind aus dem Berliner Volk verfügt, auf, mir das „janz in die Nähe" befindliche Grab anzusehen, und fügte zur Bekräftigung hinzu, „da jehen de Leute alle hin". Er führte mich wenige Schritte nach links und hielt dann vor einem verwahrlosten und eingesunkenen, mit Efeu spärlich bedeckten Hügel still mit den Worten, die sich mehr durch Deutlichkeit als durch Zartgefühl auszeichneten: "Da liejt se nu, die putzige Kruke!" Ein Nekrolog von solchem Lakonismus war mir doch neu. Und als der Rohling verschwand, las ich auf dem verrosteten kleinen Denkmal die vor langen, langen Jahren golddurchzogenen Buchstaben:
Marie Anne Dutitre nec George fille de Benjamin George et de Sara Robert ne le 27 de Janvier 1748 mort le 22 de Juillet 1827. Und beim Entziffern dieser verwischten Inschrift klangen wieder Geschichten in mir auf, lustige, putzige, urdrollige Geschichten, die mir in meiner Kindheit über diese Frau erzählt worden sind. Die Dutitre, die nun schon so lange ihre alten gichtigen Knochen unter diesem Hügel ausruht, war zur zeit des alten Fritzen und der beiden ihm folgenden Friedrich Wilhelme eines der bekanntesten Berliner Originale, eine Dame, deren urwüchsige Worte und Taten in alten und echten Berliner Familien sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten und heute noch lachend zitiert werden. Sie gehörte einer französischen Emigrantenfamilie an, war aber selbst mit Spree- oder vielleicht auch Pankewasser getauft, ein Kind aus dem Volk, das auf lächerliche Vorurteile wie Orthografie und Grammatik mit grenzenloser Verachtung herabblickte. Sie sprach und schrieb falsch zum Erbarmen des lieben Gottes, aber sie dachte und fühlte richtig zur Freude der lieben Mit- und Nachwelt. Drall, blitzsauber und von angenehmer Rundlichkeit, hatte sie ein schlimmes Mundwerk und ein gutes Herz auf dem rechten Fleck. Mit diesen, älteren Herren besonders gefährlichen Reizen kaperte sie sich nach wohlerwogenem Plan einen sehr reichen Mann, bewussten Herrn Dutitre, der sie zum Altar, und den sie an der Nase herumführte.
Sie denken wohl schon? O nein! Durchaus nicht. In allen Ehren. Sie zog, wie man zu sagen pflegt, die Hosen an und schaltete als züchtige, resolute Hausfrau. Der Schnabel war ihr nicht gerade hold gewachsen. So lebte sie manches Jahr neben Herrn Dutitre; als er sich zum Sterben niederlegte, backte Madam bereits in der nebenan gelegenen Küche die ungeheuren Massen Napf- und Streuselkuchen, mit der sie nach der Beerdigung die voraussichtlich sehr zahlreiche Trauerversammlung bewirten wollte. Papa Dutitre wollte sein liebes Ehegespons noch einmal sehen, um ihr gerührt zu danken für all die Grobheiten, die sie ihm während ihres Eheidylls an den kahlen Kopf geworfen hatte. Da steckte sie ihren, mit einer riesigen Haube geschmückten Schädel zur Tür herein und herrschte ihn an: „Wat ist denn los? Du weeßt doch, dass ick keene Leiche nich sehen kann!" Dann beweinte sie mit Maß und Würde den an dieser zartsinnigen Anrede Dahingeschiedenen und verblüffte viele Jahre ganz Berlin durch ungewöhnlich burschikose, meist völlig unerwartete Redewendungen. Die Aussprüche, die ihrem süßen Munde entflohen, sind unzählig und bewunderungswürdig durch den Reichtum der Nuancen; sie lassen sich leider nicht alle wiedererzählen. Sie war von heilloser Respektlosigkeit gegen Höhergestellte, sie rüffelte und schnauzte an, wer ihr in den Weg lief.
Und einmal lief ihr der König in den Weg. Unter den Linden. Er kannte sie wohl - wer kannte sie nicht! Aber zerstreut und brummig, erwiderte er ihren Gruß nicht. Alle Wetter, da war der Beherrscher aller Preußen aber an die unrechte Adresse gekommen. Plötzlich fühlte sich der Monarch am Ärmel gefasst. „Na, wat is'n det, Majestätken, man nich so stolz, Steuern nehmen kann er, aber die reiche Dutitren jrießen is nicht!" Seine Majestät sollen sich Allerhöchst vor Lachen geschüttelt und der redefertigen Frau gnädigst die Hand gereicht haben. Madame aber ließen den Handschuh in Glas und Rahmen fassen mit der stolzen Inschrift: „ An diesem Handschuh fasste mir mein Keenich!" Ich glaube, die Reliquie wird noch heute in irgendeinem märkischen Museum aufbewahrt. Und unter ihren letzten Willen hat sie noch die schönen Worte gesetzt: „Wenn ick mir denke, wer von meine Verwandten all det scheene Jeld erbt, möchte ick am liebsten jar nicht sterben!" Alle diese Schnurren fielen mir ein, als ich vor einigen Monaten am Grabhügel der Dutitre stand. Der Gärtnerbursche hatte recht: sie war wirklich eine „putzige Kruke"!
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Entnommen aus „100 Jahre Berliner Humor" Berlin 1923, Dr. Eysler & Co Aktien-Gesellschaft