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Das verlassene Krankenhaus bei Tschernobyl

Nic

Heft, 28 Seiten, 2020 - ab 23 Nov. erhältlich

Die Stadt Prypjat liegt nur 3 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Im hiesigen Krankenhaus wurden unmittelbar nach der Explosion des Atomreaktors die ersten stark verstrahlten Opfer behandelt. Viele von Ihnen sind an der massiven Strahlenbelastung gestorben.

Am 27. April 1986, einen Tag nach der Nuklearkatastrophe, wurde die Prypjat evakuiert. Seither ist die Stadt, wie auch das hier gezeigte Krankenhaus verwaist. 30 Jahre Leerstand hinterlassen Ihre Spuren. Nic führt uns auf einem Rundgang durch verlassene Gänge vorbei an verfallenen OP-Sälen und Behandlungszimmern.

Für alle Fans von Lost Places.

Ab 4 Heften versenden wir versandkostenfrei.

Indische Botschaft

Indische Botschaft

Dietrich Lincke

Die Indische Botschaft (Abb.1-3) liegt zentral im Diplomatenviertel, Tiergartenstraße 17. Sie ist flankiert von der Südafrikanischen Botschaft und der großzügig angelegten, repräsentativen Vertretung des Landes Baden-Württemberg. Das Gebäude des - nach der Bevölkerungszahl, nicht nach der Fläche (knapp 3,3 Mio. km²) - zweitgrößten Staates der Welt wirkt demgegenüber auf den ersten Blick eher unprätentiös und nüchtern. Es nimmt fast die ganze Front des nur 40 m breiten Grundstücks ein und gewinnt den nötigen Raum dadurch, daß es lang nach hinten gezogen ist. Indien, das über jahrtausendealte architektonische Traditionen verfügt, hat bewußt darauf verzichtet, den Entwurf eigenen Baumeistern zu übertragen und stattdessen ein Berliner Architektenbüro damit betraut. Das war eine noble Geste gegenüber dem Gastland. In der Form wirkt die Indische Botschaft deshalb nicht exotisch, sondern modern und aufgeschlossen. Sie ist aber mit dem typischen indischen roten Sandstein (aus Rajasthan) verkleidet, wie er zu Hause für den Bau von Palästen, „roten Forts" (z. B. in Delhi, Agra), aber auch für die imponierenden Regierungsgebäude in Neu-Delhi benutzt wurde. Im Innern der Botschaft fand er zudem Verwendung für Steinmetzarbeiten, die jedoch in Indien selbst gefertigt sind.

Die Indische Botschaft Berlin braucht in ihrer schlichten Eleganz den Vergleich mit der Deutschen Botschaft Neu-Delhi keineswegs zu scheuen, die auf einem riesigen Parkgrundstück in der „Diplomatischen Enklave" steht, das auch die Residenz des Botschafters beherbergt; sie wurde l956-62 als eine der ersten neuen Botschaftsbauten des Bundesrepublik Deutschland errichtet.

Indien war das erste Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg - schon 1951- den Kriegszustand mit uns beendete. Es hatte selbst erst 1947 seine Unabhängigkeit erlangt, nach dem jahrzehntelangen weitgehend gewaltlosen Ringen, das Mahatma Gandhi gegen die britische Kolonialmacht organisiert hatte. Er selbst wurde 1948 von einem Fanatiker ermordet. Der Preis der Freiheit war hoch. Während Gandhi und die aus der Unabhängigkeitsbewegung entstandene Kongreßpartei Indien als Ganzes erhalten wollten, wirkte sich jetzt aus, daß die britische Verwaltung immer wieder auf die Gegensätze zwischen den Hauptreligionen des Landes, Hinduismus und Islam, gesetzt hatte. Nun verlangten die Mohammedaner unter Jinnah einen eigenen Staat, den die Briten ihnen zugestanden.

Er umfaßte den Nordwesten des Subkontinents ebenso wie den Osten (damals „Ost-Pakistan", das heutige Bangladesch). Beide Landeshälften waren durch Tausende von Kilometern getrennt .

Die Loslösung Pakistans von Indien führte zu einer Katastrophe: Da Hindus, Muslims und Sikhs in vielen Provinzen, gerade in den neuen Grenzbereichen, nebeneinander gelebt hatten, kam es in der aufgeheizten Stimmung zu großen Grausamkeiten auf beiden Seiten. Etwa 14,5 Millionen Menschen flüchteten oder wurden vertrieben - aus Pakistan in das indische Kernland oder in umgekehrter Richtung. Schätzungen über die Zahl der Todesopfer reichen bis zu einer Million. Die Parallelen zur Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg liegen auf der Hand.

Die Grenzziehung zwischen Indien und Pakistan blieb umstritten. Beide Staaten führten darum drei Kriege gegeneinander (1948, 1966 und 1972). Hauptzankapfel war Kaschmir im äußersten Norden des Subkontinents. Dessen mohammedanische Bevölkerung wollte zu Pakistan kommen, während der Fürst, der Hindu war, den Anschluß an Indien erklärte. Das Gebiet ist bis heute geteilt; nur der kleinere Teil gehört zu Pakistan. Der Konflikt schwelt fort.

Die unglückliche Struktur Pakistans mit seinen beiden weit voneinander entfernten Landeshälften begünstigte weitere Interessengegensätze. 1971 trennte sich der östliche Teil, das heutige Bangladesch, vom Westen - durch Indien dabei mit Sympathie begleitet, aber unter schlimmen Bürgerkriegswirren. Dieser Konflikt ging in den dritten indisch-pakistanischen Krieg über. Das Verhältnis zwischen den beiden großen Nachbarstaaten auf dem Subkontinent bleibt prekär, und beide verfügen inzwischen über Atomwaffen.

Auch zwischen Indien und China gibt es nicht ausgeräumte Differenzen, insbesondere Meinungsverschiedenheiten über den Grenzverlauf auf dem „Dach der Welt" (Ladakh, das zu Indien gehört, und Tibet, das nach Auffassung Chinas Teil seines Staatsgebiets ist). 1962 kam es zwischen ihnen darüber zu einem Grenzkrieg, den China einstellte, nachdem es seine militärische Überlegenheit gezeigt hatte. In Indien wirkte diese Erfahrung lange nach. Inzwischen haben die beiden Riesenstaaten einen modus vivendi gefunden und einen guten Wirtschaftsaustausch entwickelt. Indien dürfte China mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern in der Bevölkerungszahl binnen kurzem einholen.

Die indische Unabhängigkeit war also mit großen Opfern an Menschenleben und Staatsgebiet verknüpft. Vielleicht auch deshalb hatte Indien jahrzehntelang Verständnis für den Wunsch des deutschen Volkes, seine Teilung zu überwinden. Andererseits war es eine der führenden Mächte in der Blockfreien-Bewegung, die Ministerpräsident Nehru auf der Bandung-Konferenz 1955 zusammen mit Tito aus Jugoslawien und Sukarno aus Indonesien ins Leben gerufen hatte. Ihr Ziel war es, sich gleichermaßen von den Blöcken in Ost und West fernzuhalten. Indien suchte trotzdem ein gutes Verhältnis zur Sowjetunion, u.a. bei seinen Waffenkäufen und vor allem, um ihre Rückendeckung gegenüber China zu erhalten, nachdem die beiden kommunistischen Großmächte sich entzweit hatten. Dies hatte Indien in dem Grenzkrieg mit China bereits genützt.

Zu den USA hat Indien nach dem Ende des „Kalten Krieges" ein besseres Verhältnis entwickelt, zumal diese nicht mehr vorwiegend auf Pakistan setzen können. Die Stellung Indiens als Regionalmacht in Südasien ist nicht zu bezweifeln und wird von den Nachbarn akzeptiert. Es verfügt mit 1,34 Millionen Berufssoldaten in Heer, Flotte und Luftwaffe über ein beachtliches militärisches Potential mit guter Ausrüstung, einschließlich Atomwaffen und einem weltweit einsetzbaren System der Satellitenüberwachung.

Zu Europa bestehen gute Wirtschaftsbeziehungen. Die EU ist Indiens größter Handelspartner (vor den Vereinigten Arabischen Emiraten, China und den USA). Innerhalb der EU hat wiederum Deutschland den höchsten Anteil. 2012 exportierten wir für 10,38 Mrd.€ und importierten für 7 Mrd.€. Damit stehen wir für Indien als Lieferant an 10. und als Abnehmer an 8. Stelle. Umgekehrt belegt Indien bei unseren Ausfuhren Platz 22, bei den Einfuhren Platz 25. Das ist bei dem riesigen Potential dieses Marktes noch kein sehr eindrucksvolles Ergebnis.

Bei den Direktinvestitionen steht Deutschland mit ca. 4,4 Mrd. an 8. Stelle. Unter den indischen Großunternehmern, die in Deutschland investiert haben, ragt der Stahlindustrielle Mittal heraus, dessen gewaltiges Stahlimperium allerdings längst auf internationaler Basis operiert.

Indien war lange Jahre der größte Empfänger von Entwicklungshilfe aus Deutschland. In den 5oer und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts errichteten wir das Stahlwerk Rourkela im ostindischen Bundesstaat Orissa mit der damals am weitesten fortgeschrittenen Technologie ( LD-Verfahren ), das nach einigen Anfangsschwierigkeiten erfolgreich in die Produktion ging. Heute führt Deutschland Beratungsprogramme im Werte von 29 Mio. € jährlich durch. Im übrigen hilft es durch günstige, aber rückzahlbare Kredite (2013 in Höhe von fast 1,1 Mrd.€). Dies entspricht dem gewachsenen indischen Selbstbewußtsein, das eine Zusammenarbeit auf gleicher Ebene anstrebt.

Dabei darf aber nicht verkannt werden, daß Indien noch immer größte soziale Probleme hat: Armut und Unterernährung, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. 30% der Bevölkerung leben mit weniger als 1$ pro Kopf täglich unterhalb der absoluten Armutsgrenze, zwei Drittel unter 2$ pro Kopf und Tag. Andererseits wächst die Mittel- und Oberschicht; sie trägt den wirtschaftlichen Aufschwung und profitiert von ihm. Das Wirtschaftswachstum liegt weit unter dem Chinas und hat sich abgeflacht. Es erreichte aber 2011/12 noch 6,2%, 2012/13: 5%. Die Diskrepanzen im Entwicklungsstand der Volkswirtschaft sind ungeheuer: von magerer Subsistenzwirtschaft in vielen ländlichen Bereichen bis zu hochmoderner Technik in industriellen Schwerpunkten wie Mumbai/Bombay oder Bangalore.

Aber diese Riesenspannen gelten in Indien nicht nur in der Wirtschaft, sondern praktisch in allen Lebensbereichen. 1972-75 lebte ich in dem Land und konnte es kennen lernen von Ladakh und Kaschmir bis zur Südspitze, von Mumbai/Bombay bis Kalkutta und Darjeeling, bis Orissa, und auch das blieb nur eine Kostprobe. Ich behauptete damals, ich könnte eine Rundreise über den Subkontinent durch die Märchenwelt der Maharadschas organisieren, auf der man kaum Berührungspunkte mit dem ungeheuren Elend haben würde; ich könnte aber auch eine Reise durch die gleichen Städte und Landschaften arrangieren, die nur die Schattenseiten zeigt und von dem romantischen Indienbild kaum etwas erahnen läßt. Das wäre weitgehend wohl noch heute möglich, wenn mich meine Eindrücke von zwei kürzeren Reisen der letzten Jahre nicht trügen.

Indien hat in seiner langen Geschichte alles nebeneinander erlebt, was die Quintessenz des menschlichen Lebens ausmacht, in geistiger wie in materieller Hinsicht. Es hat im Indus-Tal parallel zu Ägypten, Mesopotamien und China die ersten Hochkulturen hervorgebracht (seit 2500 v.Chr.). Um 1400 v.Chr. erfolgten die Invasionen der Arier, die auf die gleichen Ursprünge wie die europäischen Völker zurückgehen. Das bezeugt ihre Sprache, das Sanskrit, das ähnlich wie Latein heute nur noch für sakrale Texte Anwendung findet. Aber Hindi (neben Englisch Amtssprache) und die anderen nordindischen Sprachen sind aus dem Sanskrit hervorgegangen. Nur die Sprachen des Südens, die zur Drawida-Gruppe gehören, haben ganz andere Wurzeln. Insgesamt gibt es 22 anerkannte Regionalsprachen, die alle bis zum Universitätsniveau verwendet werden und zum Teil eigene Schriften haben. Nimmt man auch die weniger verbreiteten Sprachen, die dieses Niveau nicht erreichen, kleinere Einzugsbereiche und oft noch andere Wurzeln haben, sowie die sehr ausgefächerten Dialekte hinzu, kommt man auf über 1600 Varianten. So erklärt es sich, daß Englisch die lingua franca, die Verkehrssprache geblieben ist, und es wird noch heute bis in die einfachen Schichten hinein verstanden, außer in ganz entlegenen Gegenden. Hindi ist zwar Amtssprache, aber Südinder sprechen oft lieber Englisch, wenn sie ihr eigenes Idiom nicht anwenden können.

Bei aller inneren Vielfalt Indiens, die ihre lange zurückreichenden Wurzeln hat, bestanden - weit stärker, als dies bei China der Fall war - im Laufe der Geschichte umfangreiche und oft prägende Außenkontakte mit anderen Zivilisationen, nach Ost wie West, auch zum Mittelmeerraum, später zu ganz Europa. Der Handel ging über Land, aber auch zur See, von China über die indische Malabarküste ins Mittelmeer und von dort in umgekehrter Richtung; das brachte auch kulturelle Anstöße mit sich. Der größte Einschnitt war der Eroberungszug Alexanders des Großen nach Indien (327-325 v.Chr.). Die griechischen Einflüsse hielten lange an, und die gegenseitige geistige Befruchtung führte gerade in der Indus-Region zu einer hohen kulturellen Blüte.

In dem gesamten indischen Raum kamen und gingen immer wieder Dynastien, die Teilgebiete beherrschten oder sogar Großreiche schufen. Im 3. Jahrhundert v.Chr. vereinte der große Asoka den ganzen Subkontinent unter seiner Herrschaft. Diese Epoche gilt noch heute als das „Goldene Zeitalter" Indiens. Aus ihr stammt das Staatswappen, das auch die vordere Front der Indischen Botschaft schmückt, das Löwenkapitell von der Asoka-Säule in Sarnath (bei Benares) (Abbild 5).

Im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit drangen wiederholt mohammedanische Eroberer in den indischen Subkontinent vor und errichteten dort Herrschaftsgebiete, bis schließlich die ebenfalls muslimischen Mogulkaiser erneut ein ganz Indien umfassendes Großreich errichteten (1526-1857).    Ein architektonischer Glanzpunkt dieser Epoche war der Bau des berühmten Grabmals Taj Mahal in Agra, das Mogul Shah Jahan für seine Gattin errichten ließ. Seit Beginn des 18.Jahrhunderts verfiel die Macht der Moguln. Sie waren nur noch „Schattenkaiser", und die regionalen Kräfte hatten das Sagen.

1498 war der portugiesische Entdecker Vasco da Gama an der südwestlichen Malabarküste  gelandet, und die Portugiesen gründeten ihre ersten Niederlassungen in Indien. Seit 1600 folgten ihnen die Briten und die Holländer, bald auch die Franzosen, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit den Engländern um die Vorherrschaft kämpften, ihnen dabei aber unterlagen. Die Engländer übten ihre Vorherrschaft zunächst durch ihre Ostindienkompagnie aus, bis die britische Krone 1858 die Souveränität über das bisherige Mogulreich selbst übernahm. Indien wurde zum Kernstück des Britischen Empire; 1876 veranlaßte Premierminister Disraeli die Proklamation der Kolonie zum Kaiserreich und verschaffte damit seiner Königin Victoria den Rang, der ihr im  Vergleich zu    anderen  teilweise weniger mächtigen „Kollegen" in Europa und der Welt noch fehlte.

Die Zeit der „British Raj" schuf ein besonderes Verhältnis zwischen beiden Ländern. Obwohl nur wenige Zehntausende Engländer das Riesenreich unter Kontrolle hielten, hat die Epoche tiefe Spuren hinterlassen, und zwar sowohl in Indien wie in Großbritannien. Dabei mischen sich Haß - es gab auf beiden Seiten Gräueltaten - und Liebe, Respekt und Bewunderung für den anderen. Was die Briten in  Verwaltung, Justiz, demokratischen Ansätzen, Bildungs- und Unterrichtswesen, Infrastrukturen hinterlassen haben, wird fortgesetzt und fortentwickelt. Selbst Namen von Städten, Straßen und Plätzen wurde  lange beibehalten, teilweise noch immer. In britischen Familien hatte es in den Zeiten des Empire zum guten Ton gehört, daß zumindest ein Angehöriger eine Zeitlang nach Indien ging. Die Nostalgie wirkt bis heute nach. Umgekehrt hinterließ der britische „way of life" viele Spuren in der Oberschicht des Subkontinents.

Indien ist kein Land der Revolutionen, aber aufgestauter Ärger kann sich in plötzlichen Haßausbrüchen und Aufruhr entladen. Im allgemeinen hat das Volk jedoch eine unendliche Geduld. Darauf hat Mahatma Gandhi mit seiner Bewegung der Gewaltlosigkeit aufgebaut, für die der Hinduismus die geeignete geistige Grundlage bildete. 81% der Bevölkerung gehören  dieser vorherrschenden  Religion an, deren Götterwelt und Kulte eine ungeheure Variationsbreite lassen und daher  der Toleranz in Glaubensfragen viel Raum geben. Von der anderen Hauptreligion des Landes, dem Islam (13%), gilt das nicht. Indien hat inzwischen schon wieder fast  genauso viele Mohammedaner wie Pakistan, das gegründet wurde, um dem Islam eine eigene Heimstatt zu bieten. Das Verhältnis zwischen Hindus und Muslimen ist an vielen Orten gespannt, und es kommt noch heute gelegentlich zu wechselseitigen Ausschreitungen. Auch die Sikhs (2%) waren verschiedentlich in religiöse Unruhen verwickelt. Premierministerin Indira Gandhi wurde 1984 infolge solch eines Konflikts von ihren Leibwächtern ermordet, die Sikhs waren. Der Einfluß dieser Religionsgemeinschaft  ist unverändert  größer als ihr Bevölkerungsanteil. Sie sind geschäftlich und politisch oft sehr erfolgreich, auch unter den Auslandsindern. Ihre Religion, im 16. Jahrhundert entstanden, verbindet Elemente des Hinduismus und des Islam. Die Männer fallen durch ihre Tracht  (langer Haar- und Bartwuchs, Turban) und den Namenszusatz Singh auf. Weitere 2% der Bevölkerung sind Christen. Die ersten kamen schon im 1. Jahrhundert n. Chr.; sie führen sich auf eine Missionsreise des „ungläubigen Thomas" nach Südindien, also auf einen Jünger Jesu, zurück. Die meisten christlichen Gemeinschaften verdanken ihre Entstehung dem Einsatz europäischer Missionare in der Neuzeit. Goa, von 1510-1961 portugiesische Kolonie, ist weiterhin eine Hochburg des Katholizismus. Die Juden haben in Indien eine ähnlich alte Tradition wie die Christen. Nach der Zerstörung Jerusalems (70 n.Chr.) siedelte sich eine Gruppe an der Malabarküste an; ihre Nachkommen gingen aber in jüngster Zeit weitgehend nach Israel zurück.

Nur noch 1% der Inder sind Buddhisten, obwohl der Religionsstifter Gaudhama Buddha (ca.563-483 v. Chr.) in ihrem Lande wirkte. Er entstammte einer Fürstenfamilie aus Nordindien an der Grenze nach Nepal. Seine Lehren fanden schnell Anhänger und beherrschten fast 1000 Jahre lang das religiöse Leben in Indien. Darüber hinaus verbreiteten sie sich in der Himalayazone, auf Ceylon und bis nach Hinterindien (Indochina) sowie nach Ostasien, wo sie heute noch überall zu Hause sind, während der Buddhismus in Indien wieder durch den Hinduismus verdrängt wurde und nunmehr lediglich  einen Anteil von 1% hält. Daneben bestehen andere, zum Teil sehr alte Religionen in Indien fort wie die Jains oder die Parsen (hauptsächlich in Mumbai, fußend auf den Lehren Zarathustras). Wohl  kein anderes Land der Erde bietet einen so reichen Nährboden für die verschiedensten spirituellen, auch esoterischen Bewegungen wie Indien. Immer wieder finden religiöse Führer und Lehrer („Gurus") ihre Anhänger und gründen religiöse Begegnungsstätten („Ashrams"), die Jünger aus aller Welt anziehen. Auch das hat Einfluß auf das landläufige Indienbild.

Ein weiteres wichtiges Phänomen der indischen Gesellschaft, das es in dieser Form in anderen Staaten nicht oder nicht mehr gibt, ist das Kastenwesen, das noch immer eine viel stärkere Rolle spielt, als uns im Westen vielleicht bewußt ist. Man unterscheidet  vier Kasten: Brahmanen (ursprünglich Priester, heute häufig Wissenschaftler und Intellektuelle), Kschatriyas (Krieger, Adel), Vaischyas (Kaufleute, Unternehmer), Sudras (unterworfene Bauern), dann aber Kastenlose oder Parias, die „Unberührbaren". Obwohl verschiedene religiöse und politische Kräfte, auch Mahatma Gandhi versucht haben, dieses System zu überwinden, erweist es sich als äußerst zählebig, wie Erfahrungen des alltäglichen Lebens immer wieder zeigen (z.B. ein Blick in die Heiratsannoncen der Tageszeitungen).

Gewiß finden sich zum Beispiel unter den Abgeordneten der Kongreßpartei Angehörige aller Kasten und Kastenlose. Auch die andere große Volkspartei, die bürgerlich-hinduistische Janata-Partei kämpft um die Unterstützung aus allen Schichten. Dann gibt es aber auch wieder politische Gruppierungen, die sich gerade auf die Kastenlosen stützen. Das Spektrum der politischen Kräfte ist mit der Zeit ohnehin viel bunter geworden. Seit Jahrzehnten gibt es zwei kommunistische Parteien, neu hat sich eine Antikorruptions-Partei gebildet, die aus gegebenen Anlässen Zulauf erhält, und es bilden sich immer mehr Regionalparteien. Das erschwert trotz des Mehrheitswahlrechts die Bildung klarer Mehrheiten. Die eindeutige Vorherrschaft der Kongreßpartei  (bis ans Ende der 70er Jahre) und die darauf folgende Tendenz zur Bildung eines Zwei-Blöcke-Systems mit der Janata-Partei, von denen jeweils einer zeitweilig die Macht übernehmen kann, dürften dem Ende zugehen.

Das macht die Demokratie nicht leichter handhabbar. In vielem funktioniert sie jedoch sehr wirksam, z.B. in der Meinungs- und Pressefreiheit. Es gehört zu den wichtigsten Kriterien einer Demokratie, daß Mißstände im eigenen Lande aufgedeckt, angeprangert und bekämpft werden. Das sollte man   würdigen, wenn man aus deutscher Sicht, auch von höchster Stelle, die Verhältnisse in Indien kritisiert. Wohlwollende Zurückhaltung auf beiden Seiten macht es leichter, mehr Verständnis für einander zu entwickeln.
Aufgabe einer Botschaft kann und sollte es nicht sein, die Vielschichtigkeit der eigenen Gesellschaft auseinanderzunehmen und zu rechtfertigen. Sie muß in erster Linie dafür sorgen, daß die praktische bilaterale Zusammenarbeit gefördert und ausgebaut wird. Die grundlegenden Gemeinsamkeiten - die demokratischen und rechtsstaatlichen Zielsetzungen, die Akzeptanz des Pluralismus in der Gesellschaft, die bundesstaatlichen Strukturen (Indien hat 28 Gliedstaaten, Deutschland 16) -  erleichtern dabei vieles. Der neue indische Botschafter in Berlin (Vijay Gokhale) vermittelt den Eindruck, daß er sich seinen praktischen Aufgaben nüchtern, aber mit Nachdruck und viel Sachverstand widmen wird - wie seine Vorgänger. Die bisherigen Verwendungen des 1959 geborenen Berufsdiplomaten lagen hauptsächlich im asiatischen Bereich. Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit in Berlin fand im Februar 2014 die sechstägige Staatsvisite des Bundespräsidenten in Indien statt, das bisher letzte Glied einer langen Kette von Besuchen der Staats- und Regierungschefs, seit  Premierminister Nehru 1956 in Begleitung seiner Tochter Indira Gandhi nach Bonn kam.

2011 war ein Markstein. Man feierte das 60-jährige Jubiläum der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen 1951. Bundeskanzlerin Merkel reiste nach Neu-Delhi und hielt dort die ersten bilateralen Regierungskonsultationen mit Premierminister Manmohan Singh ab. Solche regelmäßigen hochrangigen Treffen werden nur mit wenigen Partnerländern vereinbart und sollen die besondere Wichtigkeit der beiderseitigen Beziehungen unterstreichen. Das Jahr 2011 wurde in Deutschland und Indien mit zahlreichen Veranstaltungen und Initiativen begangen, um die Kenntnisse über Wissenschaft, Forschung und Kultur im Partnerland zu vertiefen. Diese Aktivitäten standen unter dem Motto „Connecting Cultures".

Das Netz der Zusammenarbeit ist gut ausgebaut. In Indien gibt es sechs Goethe-Institute: Neu-Delhi, Kalkutta, Mumbai (Bombay), Chennai (Madras), Bangalore und Pune. Sie heißen im Lande aber anders: Max-Müller-Bhavan -  nach dem bedeutenden deutschen Indologen und Sanskritforscher, der von 1823 - 1900 lebte und in Oxford lehrte. Er genießt in Indien große Bekanntheit und hohes Ansehen. Gegenstück der Max-Müller-Bhavans ist das Tagore-Zentrum in der Indischen Botschaft Berlin, benannt nach dem indischen Dichter und Philosophen Rabindranath Tagore (1861 - 1941), der 1913 den Nobel-Preis erhielt. Er fand in Deutschland viele Verehrer, besonders in der Zeit der Weimarer Republik, in der das Interesse an Indien vielleicht größer war als jetzt.

Ein Paradepferd der bilateralen Beziehungen  ist in jedem Fall der umfangreiche und rege wissenschaftliche Austausch. Die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet geht bereits auf die 1950er Jahre zurück und stützt sich nunmehr auf zwei Regierungsabkommen von 1971 und l974. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), der in Neu-Delhi seit Jahrzehnten eine Zweigstelle unterhält, fördert die Kooperation zwischen den Hochschulen und den wissenschaftlichen Austausch. In Deutschland studieren etwa 6000 indische Studenten, in Indien 1000 deutsche. Indien ist Deutchlands zweitwichtigster Partner in der wissenschaftlichen Forschung nach den USA.

Das Potential ist auch in vielen anderen Bereichen groß und noch sehr ausbaufähig. In der Außenpolitik haben beide Länder das gemeinsame Interesse an der Erweiterung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, damit sie - ihrer Bedeutung entsprechend - einen ständigen Sitz in diesem internationalen Spitzengremium erhalten, wie auch die eine oder andere sonstige  führende Regionalmacht. An der Koordination werden die diplomatischen Vertretungen ihren Anteil haben.

Für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen insgesamt bringen die Generalkonsulate in Frankfurt, Hamburg und München sowie in Mumbai (Bombay), Kalkutta, Chennai (Madras) und Bangalore zusätzlich ihre Mitwirkung und ihre Kontakte ein.

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Fotos: Dietrich Lincke

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