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Über Werte und Tugenden

Florian Russi

Mehr denn je wird über die althergebrachten Werte und Tugenden diskutiert. Sind Tugenden und Werte Begriffe aus der Klamottenkiste oder bestimmen sie auch heute noch unser Handeln? 

Else Ury

Else Ury

Ulrike Unger

Die Erfinderin des „Nesthäkchen“

Sie war die bekannteste Kinderbuchautorin der Weimarer Republik. Ihre Bücher erfuhren eine Millionenauflage. Generationen junger Mädchen liebten ihre Nesthäkchen-Figur. Weil sie Jüdin war, wurde Else Ury im Januar 1943 nach Auschwitz deportiert.

Annemarie Braun, genannt das „Nesthäkchen", gehört zu den erfolgreichsten Protagonistinnen der deutschen Mädchenliteratur der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Identifiziert haben sich unzählige junge Mädchen - oder Backfische, wie es damals hieß - mit der aufmüpfigen Berliner Arzttochter mit den blonden Rattenschwänzen. Tatsächlich hat Else Ury viele Details aus ihrer eigenen Biographie in diese Bücher einfließen lassen. 1877 kommt sie als drittes Kind einer Tabakfabrikantenfamilie zur Welt. Das eigentliche Nesthäkchen ist allerdings ihre jüngere Schwester Käthe. Urys ältere Brüder finden in Nesthäkchens Brüdern Hans und Klaus ihre teilweise Entsprechung. Die Romane von „Nesthäkchen" bilden in ihrer äußeren Handlung die Kindheit und das Heranwachsen einer höheren Tochter im deutschen Kaiserreich ab. Ihr Inhalt spiegelt gesellschaftliche Normen und Konventionen dieser Zeit sowie Rollenbilder und Stereotypien von heiler Kinderwelt und erfüllter Romantik. Else Ury selber lebte mit Eltern und Geschwistern in Berlin-Mitte.

Ferienhaus von Else Ury im schlesischen Krummhübel
Ferienhaus von Else Ury im schlesischen Krummhübel
Die Familie legte viel Wert auf ihr assimiliertes Judentum, in ihrem Patriotismus standen sie ganz hinter der Politik der wilhelminischen Ära. Jüdische Feiertage und Traditionen spielten eine Rolle, der Vater gehörte der jüdischen Gemeinde an, doch waren die Urys bemüht, die deutsche und jüdische Identität im Ausgleich zu halten. Die spätere Schriftstellerin wuchs nahezu unbehelligt und sorgenfrei in einem liberalen bildungsbürgerlichen Haushalt auf. Wie für die meisten Mädchen aus gutem Haus, war eine Ausbildung oder gar ein Studium für sie nicht vorgesehen. Nach dem Besuch der Luisenschule, einem privaten Lyzeum für Bürgerstöchter, an dem Handarbeit, Musik, Konversation und Etikette gelehrt wurden, blieb sie zunächst im Haus der Eltern. Auch das war nicht unüblich. Bis sich ein Heiratskandidat ankündigte, harrten viele daheim aus. Langeweile häufig der einzige Begleiter. Else Ury blieb unverheiratet, aber sie nutzte diese Zeit und begann zu schreiben. Zuerst eine Märchensammlung („Was das Sonntagskind erlauscht") mit deutlich christlichen Motiven. Thematisch erstaunlich ist ihr zweites Buch „Studierte Mädel" im Vergleich zu ihren anderen Romanen. Es vermittelt die Botschaft der Vereinbarkeit von Ehe und akademischem Beruf. Es erschien 1906, zwei Jahre bevor in Deutschland Frauen an den Universitäten zugelassen wurden.

Als emanzipatorisch ist das Buch hingegen nicht einzustufen. Dafür fehlen ihm frauenrechtliche Forderungen und klare Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Missständen.
Von 1913-1925 entstand die Nesthäkchen-Buchreihe. Teil des großen Erfolges war die Methode, das begeisterte Lesepublikum mit Fortsetzungsromanen an sich zu binden. Ursprünglich sollte die Reihe nach sechs Bänden enden. Viele Leserinnen wollten jedoch wissen, wie die Geschichte von Nesthäkchen weitergeht. Die erwartungsvollen Anfragen gingen in solcher Flut im Verlag ein, dass schließlich gemeinsam mit der Autorin beschlossen wurde, die Reihe auf zehn Bände zu erweitern. In diesen letzten Büchern wird Annemaries Hochzeit, die Geburt ihrer Kinder und Enkelkinder erzählt. Mit „Nesthäkchen im weißen Haar" fand die Reihe ihr Finale. Jedoch tat dies der Beliebtheit der Figur keinen Abbruch. 1983 produzierte das ZDF die ersten drei Bände als Weihnachtsserie und strahlte sie in wiederholter Reihenfolge aus.

Das, was Else Ury ihrer Nesthäkchen-Figur nicht zugestand, den eigenen Wunschberuf zu erlernen und für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen, realisierte sie allerdings für sich selbst. Von den schwerwiegenden Folgen der Inflation war sie finanziell wenig betroffen und konnte sogar ein Ferienhaus im Riesengebirge unterhalten. Im „Haus Nesthäkchen" arrangierte sie Treffen mit Leserinnen, die sie hier bewirtete und gemeinsam mit ihnen ins Gespräch kam.

Torgebäude des KZ Auschwitz-Birkenau
Torgebäude des KZ Auschwitz-Birkenau

1935 wurde Else Ury aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, was ein Publikationsverbot bedeutete. Noch 1933 hatte sie sich für den Nationalsozialismus begeistert, dessen chauvinistischen Ton in ihren Roman „Jugend voraus!" übernommen. Verwandte emigrierten nach und nach ins Ausland. Der Bruder Hans, dem die Nazis die Approbation entzogen, beging Selbstmord. Noch 1938 besuchte sie ihren Neffen in London, kehrte aber nach Deutschland zurück. Dort pflegte sie bis 1940 die gehbehinderte Mutter. War es nur die große Sorge um die kranke Mutter oder auch ein erlerntes naives Vertrauen, das Else Ury bereits während des Ersten Weltkriegs mit einer abwartenden Alles-wird-gut-Haltung ausstattete und aufgrund dieser sie selbst beim Aufzug des nationalsozialistischen Unheils nicht floh? Die Chancen auf Flucht sanken ab 1940 erheblich. Ury war nun allein in Deutschland, hatte in ein überfülltes Moabiter Judenhaus umziehen müssen, wo die Wohnumstände sie bedrängten. Am 12. Januar 1943 stieg sie zusammen mit anderen Berliner Juden aus der Deportationssammelstelle in den Zug nach Auschwitz. Nach der Ankunft im Todeslager wurde sie wie weitere 872 Deportierte dieses Zuges sofort in die Gaskammern geführt.

1995 tauchte im ehemaligen KZ Auschwitz ein Koffer mit dem Namen der Schriftstellerin auf. Er befindet sich heute im Museum Auschwitz.

Der Kontrast zwischen den realen Geschicken der Autorin und der heilen Welt ihrer Bücher ist es, der erschüttert.

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Vorschaubild, Else Ury, gemeinfrei. Bearbeitet von Andreas Werner

Ferienhaus von Else Ury, Miezian, Wikipedia, gemeinfrei

Torgebäude des KZ Auschwitz-Birkenau, Bundesarchiv, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha / CC-BY-SA

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