Ihr lieben Schusterjungen, euch will ich heute ein Loblied singen! Schockschwerenot!
Wo seid ihr dann geblieben? Wohin habt ihr euch denn, in drei Teufels Namen, verkrümelt?
Ihr ruppigen, kleinen Kröten, wer von uns Älteren hätte euch nicht gern gesehen! Wenn ihr mit euren Struwelköpfen, die niemals Kamm und Bürste gesehen, mit euren verwegenen, immer durch Stiefelwichse verschönten Visagen, in eurem schmierigen blauen Arbeitshemd, mit den langen, über die Schulter baumelnden Schäftestiefeln, auf Pantinen daherschlurktest und euch eins pfiffet...ja, ihr lieben, verdammten Bengels, da habt ihr mit euren urdrolligen Einfällen, euren witzigen Bemerkungen und haarsträubenden Vergleichen jedem, auch dem Griesgrämigsten, ein helles Lachen entlockt. Zugegeben: ihr war't scharfe Kritiker, eurem spähenden Auge entging nichts, ihr war't unerbittlich und unnachsichtig, ihr hättet Berliner Theaterrezensenten werden können. Aber ihr besaßet saftigen, prachtvollen Humor und ihr besaßet so viel davon, dass ihr alle Possenfabrikanten von heutzutage hättet in die Tasche stecken können. Ihr gehörtet zum öffentlichen Leben von Alt-Berlin, eure Worte und Redensarten, eure Ulkereien und Witze sind Gemeingut des Volkes, sind „geflügelte Worte" geworden, in vielen Possen der damaligen Zeit seid ihr verewigt worden, die unvergeßbare geniale Ernestine Wagner hat auch zum Gaudium vieler Tausende kopiert...wo seid ihr denn geblieben, ihr Teufelsjungen?...
Einer von euch, so'n Knirps, wollte mal klingeln und konnte die Glocke nicht erreichen. Ein menschenfreundlicher Herr hob ihn hinauf, und als der Bengel ein paar Mal an der Glocke so gerissen hatte, dass schon längere Zeit Verstorbene hätten erwachen können, meinte diese verdammte kleine Kröte: So, nu heben Se mir wieder runter; nu wollen wer machen, det wer wechkommen, sonst kommt eener!" Ob's nun derselbe Ruppsack war, von dem ich vorhin erzählte, oder ein anderer, gleichviel. Ein gleich gesinnter Genosse war's, der zu seinem ihn strafenden Meister sagte: „Meesta, wir beede kennten nu so jut mit enander auskommen, wenn Se sich nur die verfluchte Hauerei abjewehnen kennten!"... „Lieber Jott, laß Pelle wachsen!" ist ein noch heute in den niederen Volksklassen sehr gebräuchliches Wort. Es stammt aus den 50er oder 60er Jahren und ist Eigenbau einer dieser kleinen „riedigen Bollen".
An einem Sonntage sollte er, während die Meisterin in der Kirche war, die fette, im Ofen bratende Gans begießen. Die immer brauner, immer knuspriger werdende Haut lockte den Bengel gar zu sehr und „Hastenichjesehn" zog er dem vortrefflichen Vogel die schützende Hülle hinunter und ließ sie sich munden. Und als die Stunde der Rückkehr der Meisterin immer näher rückte und das gefräßige kleine Luder nun den buchstäblich nackten Schaden besah, schickte er in seiner Höllenangst das Stoßgebet zum Himmel: "Lieber Jott laß Pelle wachsen!"...Mit der Frage:" haben Sie Eisbeene?" betrat ein Schusterjunge den Fleischerladen, und auf die bejahende Antwort des Schlächters gab ihm der kleine Bengel den menschenfreundlichen Rat:" Na, denn koofen Se doch Filzpariser!"...Beim Betrachten der Göttin, die einen Palmenzweig über den toten Krieger schwingt (auf der Schlossbrücke), meinte ein Schusterjunge:" Meen Meesta dreht mir anners rum, wenn er mir verbimst!"...
Und mit noch einem drastischeren Ulk will ich den Reigen der Witzworte dieser damals so populären Kerlchen beschließen. Kommt einer in ein Materialwarengeschäft und legt dem sehr beschäftigten Verkäufer eine lange Bestellliste zur sofortigen Erledigung vor:"
11 ¾ Pfund Zucker a 1 1/3 Groschen, 6 7/8 Pfund Kaffee a 7 4/5 Groschen, 10 11/12 Mehl a 1 1/8 Groschen und so fort.
Und als der dienstbeflissene Heringsbändiger endlich die schwierige Rechnung beendet hat und nun mit dem Abwiegen der Waren beginnen will, ergreift der Junge den Zettel:" Danke ooch scheen! Det is nämlich die Rechenuffjabe für morjen in de Feierabendschule!" Und ihr alten gemütlichen Eckensteher, wo seid ihr denn geblieben? An Urwüchsigkeit, an drolliger Schnoddrigkeit konntet ihr euch wahrhaftig messen mit euren jungen Rivalen, den Schusterjungen. Auch euch hat die großstädtische Welle weggespült, auch über euch, ihr putzigen Kerle, sind die Räder gegangen und haben euch zermalmt. Euer Stammvater hieß Nante, euer Dolmetsch hieß Adolf Glassbrenner. Dem habt ihr Modell gestanden, der hat euch die Schnapsflasche in den Arm gelegt, der hat euch in seinem „Berlin, wie es ist und ...trinkt", verewigt, der hat euch mit Hilfe des berühmten Komikers Friedrich Beckmann im Königstädtischen Theater auf die Bühne gehoben, dem habt ihr selbst zahllose witzige Worte und ulkige Redensarten in die Feder diktiert. Soll ich mal ein bisschen aus der Schule plaudern? „Stottern Sie?" „Ne,...be,...be...bloß wenn ick rede!" ..."Is en scheener Abend heite morjen, die Nacht mecht ick mal bei Dage sehn!"..."Saren Se mal, Herr Professor, wat ick Ihnen schon lange mal fraren wollte; heeßt et nu eejentlich mir oder heeßt et mich?"...Das Straßenleben war ohne euch nicht denkbar und ihr ebenso wenig ohne die Straßenecke, an der ihr standet und „einen" oder auch mehrere „hinter die Binde gosst" und politisiertet und gute, sogar ausgezeichnete Witze risset....
Und zu den echten Berliner Volksgestalten habt auch ihr gehört, ihr alten wackeren Droschkenkutscher! Na ja, es war kein „sojenannter Jenuß", auf den federlosen, einst rotsamtenen Kissen eurer Martenkasten zu sitzen und sich im Zockeltrab von euren hinkenden, schlafenden Arabern über das malitiöse Pflaster ziehen zu lassen; aber ihr wart famose, ehrliche, gemütliche Männer. Gleich beim Einsteigen tratet ihr zu eurem Fahrgast in ein nettes Verhältnis und habt ihm durch eure drastischen Bemerkungen oft den Weg gekürzt.
Lange Jahre bin ich von demselben Stand immer mit demselben Kutscher gefahren. Ein echt Berliner Kind. „Sehen Se sich bloß det Haus an", meinte er gleich bei der ersten Fahrt, „det ist doch jewiß scheen; bloß eenen jroßen Fehler hat's; det es nich meine is!" Von dem hörte ich auch, ich entsinne mich deutlich, dass es 1870 nach Sedan war - das erste Mal die auch heute noch sehr gebräuchliche, volkstümliche Redensart: "Is ooch `ne scheene Jejend!" Er erzählte mir, dass sein Großvater in der Völkerschlacht bei Leipzig gefallen sei. Und als ich mich verpflichtet hielt, ihm ob dieses herben Verlustes ein paar tröstende Worte zu sagen, meinte er, in sein Schicksal ergeben: "Na, wissen Se, Leipzig is ooch`ne scheen Jejend!" Ein listiger und lustiger Kerl war's, der mir mal unter herzlichem Lachen berichtete, er habe sich zu seiner Hochzeit „een Paar Jlassees" kaufen wollen und habe der Verkäuferin auf ihre Frage nach seiner Nummer geantwortet: „8346". Das war nämlich seine Droschkennummer. "Bei een Haar wär`s Meechen vor Schreck untern Ladentisch jefallen!" Man glaube nur nicht, dass ich da von einem ganz besonderen Original erzähle; dieser echte Berliner Humor eignete sich allen Droschkenkutschern. Wenn sie sich mit ihren abgetriebenen Mähren unterhielten, wenn sie sich nach ihrem befinden erkundigten und mit ihnen sprachen, wie ein glücklicher Liebhaber mit seinem Mädchen...wahrhaftig, man konnte Tränen lachen. Einen Kutscher hörte ich mal sein Pferd „Kohn" nennen. Ich glaubte, ich hätte mich verhört. Er aber wiederholte diesen alttestamentarischen Namen, der mich bei einem Kleiderhändler unter dem Mühlendamm in geringeres Erstaunen versetzt hätte. Und als ich ihn wissbegierig fragte, wie er denn in drei Teufels Namen gerade auf diesen Namen verfallen sei, antwortete er: „Kieken Se'n bloß mal an. Ick nenn' ihm so wejen seine krumme Neese!" Und er hatte recht: „Kohn" hatte wirklich eine krumme Nase...Findet man das heute noch? Ach, es ist jammerschade, aber das Berliner Volk hat seine Harmlosigkeit eingebüßt, die Freude am Lachen ist ihm entflohen, der wohltuende, behagliche, goldene Humor ist dahin...
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Quelle: 100 Jahre Berliner Humor Dr. Eysler&Co Aktien-Gesellschaft