Die schwedische Romanschriftstellerin Sofia Margareta von Knorring, geborene Zelow, war 1846 mit einer kleinen Reisegesellschaft unterwegs in Deutschland. Die damals bereits 49-Jährige hielt ihre Reiseerlebnisse in Briefen fest. Im Jahr darauf erschienen sie unter dem Titel "Bref till hemmet under en sommarresa 1846" (Briefe nach Hause während einer Sommerreise).
Im 5. Brief vom 21. Juli schildert Sofie von Knorring zuerst ihre erstmalige Eisenbahnfahrt und berichtet dann auf ihre Eindrücke aus Berlin. Nadine Erler hat uns den Text ins Deutsche übertragen:
Um acht Uhr [...] kamen wir in dem großen, reich bevölkerten, grandiosen Berlin an, der ersten richtigen Stadt, die ich gesehen habe, die laut von der Gegenwart und einem unaufhörlichen, rastlosen Fortschritt kündet, aber – wir fanden keine einzige Stelle, die uns im Gedächtnis blieb. Gerade endlose Straßen, prächtige hohe Häuser, Schlösser mit allem Prunk verziert, Läden und Luxusartikel, reichlicher und kostbarer und bunter, leuchtender und mehr ins Auge stechender als alles, was sich die blühendste Phantasie ausmalen konnte. Aber ich war traurig, ohne recht zu wissen, warum. Es war zu viel, zu groß, zu maßlos, und nicht ein einziges freundliches Gesicht – außer denen von uns Reisenden, so müde und bedrückt wir auch waren.
Die guten Droschken brachten uns zu Meinhardts Hotel Unter den Linden, eins der besten Hotels, in dem die allermeisten Reisenden einer gewissen Klasse absteigen. Es gibt einige, die teurer sind, wenn auch nicht viele, aber dort wohnen nur Russen und Engländer, ebenso wie nur diese Leute – und Prinzen und Magnaten – auf den Dampfern die Plätze der ersten Klasse nutzen – und der einzige Unterschied an diesen Plätzen besteht darin, dass jede Person einen Stuhl mit Armlehnen für sich hat. Als wir von Stettin nach Berlin fuhren, saß nur eine Person auf einem dieser ersten Plätze. Aber es ist mir beinahe etwas unangenehm, sobald die Droschke hält, von einem Diener in Livrée empfangen zu werden, der einem aus dem Wagen hilft. Ein anderer nimmt mir den Mantel ab, ein dritter meine Reisetasche, ein vierter führt mich die Stufen hinauf, ein fünfter steht mit Serviette über dem Arm da und fragt nach meinen Wünschen, ein sechster zeigt mir den Weg die Treppe hinauf usw. – und das alles im grellen Schein der Gaslampen, die die blumengeschmückten Treppen und Korridore beleuchten. Ich wurde müde davon – es war so viel von allem.
Endlich konnten wir in unsere Zimmer, aber man musste sich noch ein wenig zurechtmachen, um zum table d’hôte hinunter zu gehen und ein wenig zu essen zu bekommen, und als das alles erledigt war, fanden wir endlich die Ruhe, die wir so dringend brauchten. Es waren sehr schöne Zimmer, freundlich und komfortabel, zu einem moderaten Preis. Trotzdem ist verglichen mit Schweden alles teuer, vor allem, wenn man „Unter den Linden“ wohnen will, und nicht dort zu wohnen, ist ungefähr so, wie in Stockholm auf Söder zu wohnen – auch für einen Reisenden.
Den ersten Tag hatten wir zum Ruhetag bestimmt, wurden aber auf höchst angenehme Weise gestört, denn ein alter Bekannter – nämlich Graf S. und ein junger Dito, oder ein junger Baron gleichen Namens, kamen freundlicherweise vorbei und suchten ihre soeben angekommenen Landsleute auf. Wir aßen zusammen Mittag am table d’hôte bei Meinhardts und gingen danach in das nahe gelegene große Kaffeehaus, aßen vorzügliches Eis und bewunderten u. a. die prächtigen Spiegel in diesem luxuriösen Café. Das Mittagessen dagegen war nicht gut: Ungefähr zwanzig Gerichte wurden herumgeschleudert, aber sie passten nicht zusammen. All das Fleisch und Gemüse – ein einziges Durcheinander, das mich müde und … satt machte. Wir waren etwa achtzig oder neunzig Personen, die dort aßen, oder vielleicht noch mehr. Alles war sehr elegant und abends erstrahlt der Speisesaal im Glanz von Gaslampen. Aber etwas ist mir unbehaglich: Wenn man des Abends in seinem Zimmer mit ein paar bescheidenen Wachskerzen sitzt und die Tür zum Korridor aufgeht, strömt ein wahres Meer von Licht hinein, bei dem ich zu Anfang immer an Brand, Feuer, lodernde Flammen etc. dachte, wovor ich zeit meines Lebens immer Angst hatte.
Am gleichen Abend sahen wir Tassos Tod im Königlichen Schauspielhaus, aber ein Vergnügen war es nicht. Wir kamen eine halbe Viertelstunde zu spät, alle Gänge waren dunkel und – leer und still wie ein Grab. Wir hörten unsere eigenen Schritte und fragten schließlich einen halb schlafenden Portier oder dergleichen, ob wir uns verirrt hätten, aber er sagte nein, und wir betraten den erleuchteten Theatersaal und sahen nicht Goethes Tasso, sondern einen anderen von Raupach [1] – so einschläfernd, dass ich zuletzt E. bat, mich zu wecken, wenn die Szene zu Ende war und falls noch jemand außer Leonore d’Este und ihrem Bruder dort stehen und sich streiten sollten. Tassos und Leonores Partien waren „Gastrollen“, gespielt von einem Herrn und einer Frau Rettich [2] aus Wien. Tasso war recht gut, aber Frau Tasso – unerträglich, unter aller Kritik, gekünstelt und langweilig. Tasso war wie gesagt annehmbar – und für mich der erste Theaterschauspieler, der bedachte, dass man beim Aufbrechen eines Briefes nicht sofort den ganzen Inhalt erfassen kann – denn er nahm sich die erforderliche Zeit, ihn durchzusehen und rief erst dann jenes „Ha!“, das die meisten Schauspieler kreischen, sobald sie mit verzweifelter Hast das Siegel aufgebrochen haben.
Tassos Tod macht im Allgemeinen keinen guten Eindruck: Zu sehen, wie jemand an Lungenschwindsucht stirbt, ist in der Wirklichkeit beängstigend, wie sollte es dann auf der Bühne anders sein? Leiden und Krankheiten sind eine traurige Angelegenheit; ich schätze Mord und Totschlag, Kampf und Streit, aber nicht Lungenschwindsucht oder Gelbsucht oder eine andere Art von … Sucht.
Das Theater, hässlich und geschmacklos, war nicht einmal halb voll. In den Rängen sah man hier und da ein bis zwei Personen, aber trotzdem fanden sich zu Beginn des dritten Aktes der König und die Königin [3] ein, und da ich ganz in der Nähe der königlichen Loge saß, merkte ich auch, dass das Königspaar eher vornehm als wirklich schön aussah. Aber Könige und Königinnen haben diese himmlische Gabe nicht nötig, die Menschen huldigen ihnen dennoch, wenn sie eine gute Seele und ein gutes Herz haben, aber wenn sie ... doch dieser Satz könnte allzu lang werden – und die Wohnung der Verfasserin später zu eng. Aber Gott sei Dank – zwei Dinge sind gut: Niemand hatte sich in der Skizze wiedererkannt und es gibt keinen Spielberg [4] in unserem guten, lieben, gerechten Svealand, wo man sowohl denken als auch sagen darf, was man will.
Unsere Tage hier in Berlin waren sehr schön. Einen davon haben wir beim schwedischen Gesandten [5] verbracht und ich kann in meinen Erinnerungen keinen angenehmeren Tag aufstöbern. Unser Gesandter in Berlin ist ein älterer Herr von hoher Bildung und der zuvorkommendsten Höflichkeit gegenüber allen, besonders seinen Landsleuten. Seine Frau [6] ist eine lebhafte, liebenswerte und schöne Dame holländischer Herkunft und erweist den schwedischen Gästen ihres Mannes ihr Wohlwollen auf jede erdenkliche Art. Bei dieser Gelegenheit verhalf sie ihnen auch zu sehr erfreulichen Bekanntschaften aus verschiedenen Nationen und die wenigen Stunden, die wir nach einem späten und fröhlichen Mittagessen in dem kleinen, aber sehr geschmackvollen Garten des Hotels verbrachten, sind für mich unvergesslich. Die Trauben hingen über unseren Köpfen, man sah prächtige frische Blumen – trotz der drückenden Hitze –, genoss den herrlichen Schatten und die belebende Kühle … und – das war am besten – lebhafte, muntere, witzige, genau richtig gewürzte „Konversation“, die man – oh, verzeih mir, mein gutes ernstes Land – in Deinem eisenhaltigen, steinigen Schoß nur selten findet.
An einem Morgen haben wir das Königliche Schloss gesehen und am Abend die Königliche Oper. Ich betone vor allem Letzteres, denn dort wurde ein lustiges kleines Stück aufgeführt – und ein außergewöhnlich unterhaltsames Ballett, von dem wir uns vorher keine Vorstellung gemacht hatten. Von dem Königlichen Schloss will ich gar nicht reden, obwohl vieles dort so besonders, auffallend und majestätisch war – so etwas zu schildern, ist, als würde man einen Blinden bitten, sich den Sonnenaufgang vorzustellen. Man beschreibt und beschreibt, sieht es lebensecht vor sich und – der Leser oder Zuhörer ist genauso klug wie vorher und hat selbst an der ausführlichsten Schilderung keine Freude.
Ein Gemälde muss ich aber doch erwähnen: Es hängt in der sogenannten „Bildergalerie“; einem prächtigen, aber endlos langem Raum, nicht so klein wie die in Stockholm, und viel geschmückter. Dort hängt ein Bild, größer als alle, die ich zuvor gesehen habe. Es stellt den Augenblick dar, in dem der gegenwärtige König seine Huldigung entgegennimmt und sein Volk mit lauter Stimme fragt, ob es ihm gehorchen wolle. Sie antworteten mit einem einhelligen „Ja!“, worauf der König seinerseits erwiderte: „Dies Ja ist mein!“ Und diese Worte stehen als Motto in Perlen und Edelsteinen unten auf dem kostbarsten Rahmen, den ich je gesehen habe. Und nachdem ich zuerst vom Rahmen gesprochen habe, muss ich wohl auch etwas über das Bild sagen – es ist von Krüger [7], und jede Person soll gut getroffen sein. Man sieht unter anderen auch den eigenen Diener des Künstlers sein Ja brüllen, so dass er sich fast den Kiefer ausrenkt. Auf einer Tribune sieht man eine Menge gelehrter, hervorragender Männer – Humboldt, Cornelius u. a. Ihre Gesichter, entsprechen genau der Vorstellung, die man von ihnen hat. Man kennt sie zwar von kalten Lithografien, aber da sind sie nicht so lebensecht und gemütvoll, denn es ist dem Künstler gelungen, jedes einzelne Individuum auf diesem gewaltigen Bild darzustellen – ganz anders als das von Karl Johanns [8] Huldigung oder Krönung, das im Stockholmer Schloss ausgestellt wird.
Aber nun zum Ballett – dem lustigsten, das ich je gesehen habe. Es hieß Robert und Bertrand [9] (dargestellt von sehr schönen jungen Männern), und der Titel passte auch, denn diese Herren Robert und Bertrand waren die größten Galgenvögel der Welt. In der ersten Szene des ersten Aktes sieht man einen düsteren Gefängnishof, Nacht und Unwetter, ein Wachposten hat sich in sein kleines Häuschen verkrochen, es stürmt und heult, der Donner grollt immer lauter, und zuletzt sieht man, wie im Licht ein paar kräftiger Blitze die beiden oben Genannten – von Beruf Taschendiebe und abgebrühte Schelme – sich schlau und findig, leicht und schnell an einem Seil aus Bettlaken oder anderen Lumpen das Gefängnis verlassen, im letzten Augenblick den Wachposten wecken, davoneilen und verschwinden. Das ist die Einleitung, die – wenn auch nur als Pantomime – Hoffnung auf gute Unterhaltung weckt. Nun beginnt die eigentliche Handlung: Die Szene spielt im Garten vor einem Wirtshaus. Überall stehen kleine Tische und Stühle für die Gäste, aber der Wirt und die Wirtin und eine Menge Angestellte sind beschäftigt mit Hochzeitsvorbereitungen für den Sohn des Hauses, der seine junge Braut erwartet. Ein Haufen Leute, die zum Fest eingeladen sind, erscheinen, und unter sie mischen sich auch unsere Galgenvögel, nehmen an einem kleinen Tisch Platz, essen und trinken und stehlen auch, sobald sich die Gelegenheit bietet – zum größten Vergnügen der Zuschauer. Und nun kommt die Braut in einer Kalesche (denn das Theater ist recht groß), und Tanz und Spiel und ein sehr schönes Ballett beginnen. Wenn das vorbei ist, tanzen alle Gäste, auch unsere Vögel, aber da sie höchst lächerlich angezogen sind – einer von ihnen unglaublich hässlich und geschmacklos –, wird ihr Tanz – wenn auch leicht und geschmeidig – eine perfekte Karikatur. Ihre Polka war das Komischste, das ich je in einem Theater gesehen habe. Du weißt, ich habe eine Schwäche für die Kunst, in der Öffentlichkeit seine Gefühle zu verbergen, sich Lachen und Weinen etc. zu verkneifen, aber ich lachte herzlich und die Meinen ebenfalls – ebenso wie das ganze Berliner Publikum. Unter den Hochzeitsgästen befanden sich auch zwei berittene Gendarme, man sieht sie auf ihren Pferden ankommen, diese anbinden, am Fest teilnehmen und die beiden Spitzbuben etwas misstrauisch beäugen. Aber diese schleichen sich davon, stehlen dem Wirt all sein Geld, dem einen Gendarmen die Handschuhe und am Ende auch die beiden Pferde. Mit einem gestohlenen Schirm über dem Kopf machen sich Monsieur Bertrand (in einem abgewetzten hellbraunen Frack, dessen riesige Taschen bis zum Rand vollgestopft sind) und Monsieur Robert (petitmaître mangué, aber nicht so unsagbar lächerlich wie Bertrand) aus dem Staub, zur Verwunderung und Verzweiflung der ganzen Hochzeitsgesellschaft. Aber keine Beschreibung kann die unglaubliche Komik all dieser Szenen wiedergeben, und auch nicht die des Augenblicks, in dem die beiden Herren sich treffen, davonkommen, in einen Schornstein springen und in einem Ofen landen, in dessen Stube ein paar junge Mädchen und deren Liebhaber ein kleines Rendez-vous in Abwesenheit der Eltern haben. Ein paar Monate später sehen wir die beiden jungen Herren in einem von Monsieur Robert gegründeten „Sicherheitsbüro“ zur Vorbeugung und Vermeidung von Diebstahl wieder – den Leuten, die sich an das Büro wenden, wird alles gestohlen. Als die beiden jungen Herren allein waren, holten sie Taschen, Uhren, Börsen, Handschuhe, einen Frack und vier bis fünf seidene Taschentücher hervor und man sah, wie sie alles gestohlen hatten. Schließlich werden die beiden Herren allerdings von der Polizei verhaftet, entkommen aber wiederum und der letzte Akt ist sehr schön und lustig. Die Bühne zeigt ein ganzes Tivoli, und man sieht tausend Dinge, Schausteller und Besucher. Zwischendurch trifft man auch auf Messieurs Robert und Bertrand, und als die Polizei ihnen auch hier auf den Fersen ist, schlüpfen sie hastig in einen Luftballon, der aufsteigen soll, binden ihn los und … verschwinden nach oben. Aber jetzt sind die Polizisten verzweifelt, schreien und rufen, und schließlich … schießen sie mit Pistolen auf die Vögel und das Ende ist … dass der ganze Ballon mit Insassen und allem … in Flammen aufgeht. Es gibt ein Feuerwerk, wirklich schön, aber doch schrecklich. Die Dekorationen, die ständig ausgetauscht werden, sind alle brillant, das Ballett höchst elegant und gut ausgeführt, die Musik schnell und lebhaft und das Ganze so unterhaltsam, dass ich der Meinung bin, mich selten so amüsiert zu haben wie an diesem Abend. Die Meinen sagten das Gleiche und all die anderen Zuschauer schien ebenso zu denken. Ich habe später gehört, dass dieses Ballett als eines der besten, glänzendsten und unterhaltsamsten gilt. Der Theatersaal ist auch der schönste, den ich bisher gesehen habe. Blendendes Weiß, glitzerndes Gold und prächtiger Purpursamt, so weit das Auge reicht. Der Vorhang ist sehr schön, tadellos genäht und eingerahmt von einer kolossalen Filigranarbeit, die dem kostbaren Armband einer Frau gleicht, und die echten Steine werden von buntem geschliffenen Glas vertreten, das im starken Licht des Theaters glänzt wie Juwelen – Smaragde, Topase und Rubine. Das Publikum war sicher das am wenigsten Prächtige in diesem Theater, aber alles, was comme il faut heißt, ist hier wahrscheinlich – ebenso wie andernorts – nicht in der Stadt, sondern auf Sommerreisen oder in Badeorten.
[1] Ernst Benjamin Salomo Raupach (1784–1852), deutscher Schriftsteller.
[2] Karl (1805–1878) und Julie Rettich, geb. Gley (1809–1866), deutsch-österreichisches Schauspielerehepaar.
[3] Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) und Elisabeth Ludovika (1801–1873), ab 1840 König und Königin von Preußen.
[4] Festung Spielberg: Burg in Brünn (Tschechien), lange als Militärgefängnis genutzt.
[5] Abraham Constantin Mouradgea d’Ohsson (1779–1851), 1834–1850 schwedischer Gesandter in Berlin.
[6] Lovisa Sidonia Sirtema van Grovestins (1804–1875).
[7] Franz Krüger (1797–1857), deutscher Maler.
[8] Karl XIV. Johann (1763–1844), 1818–1844 König von Schweden.
[9] Robert und Bertrand, pantomimisches Ballett (1841) von Hermann Schmidt.
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Übersetzung und Anmerkungen von Nadine Erler.
Original aus: "Bref till hemmet under en sommarresa 1846" von Sofie von Knorring.
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