Die Siegessäule ist, wie die offizielle Beschreibung sagt: ein Denkmal aus Granit, Sandstein und Bronze, in einer Höhe von 61,50 Meter, einschließlich der sie überragenden Borussia. Die Säule ist bestimmt, die künftigen Generationen an die preußischen Siege in den Jahren 1864, 1866 und 1870 zu erinnern. In den Kannelierungen des Schaftes sind dänische, österreichische und französische Kanonen eingefügt, die - aus guten Gründen (es scheint, als ob zwei der angeblichen dänischen Kanonen einfach von Holz wären) - vergoldet sind. Auf den Seiten des Unterbaues sind verschiedene militärische Episoden in Basrelief dargestellt, unter anderem der Einzug der Preußen in Paris im Jahre 1871. Die Säule ist schwerfällig und ungeschickt; der Unterbau ist zu breit und zu hoch, und ihre Linien sind unschön. Eine besondere Beschreibung verdient die Borussia, welche sie überragt. Von dieser Borussia sagt der Berliner Volkswitz: „Sie ist das einzige Mädchen in Berlin, das kein Verhältnis hat." Wenn schon die Berliner selbst sich in dieser Weise darüber lustig machen, so kann man sich denken, was die Fremden dazu sagen. Bei der Modellierung der Statue war der Künstler in nicht geringer Verlegenheit. Dieses Symbol Preußens sollte die hauptsächlichsten Eigenschaften des siegreichen Volkes zur Anschauung bringen. Ist der Genius der Bastille in seiner unsicheren Stellung auf der Fußspitze nicht ein Bild der französischen Leichtfertigkeit? Und zeugt seine Nacktheit nicht von der Verderbtheit unserer Sitten? Der Preuße dagegen ist standfest und sittsam, noch mehr, er besitzt alle häuslichen Eigenschaften:
er ist sparsam, einfach in seiner Kleidung; er ist praktisch, und zu gleicher Zeit strebt er auch nach den Höhen des Ideals. Wie sollte man alles das sinnbildlich vereinigen?
Dem Künstler ist es gelungen; man höre, wie. Zunächst die Standfestigkeit: die auf beiden Füßen ruhende Borussia widersteht einem kräftigen Windstoß, der ihre Röcke wie toll umherflattern lässt. Bedarf es eines deutlicheren Bildes? Die Sittsamkeit: unsere Statue ist vom Kopf bis zu den Füßen bekleidet und trägt sogar, der Mode des Landes folgend, dicke Unterröcke, welche, indem sie die Beine einschnüren, in der sinnreichsten Weise von der Welt gegen die Indiskretion der Windstöße schützen. Die häuslichen Eigenschaften zeigen sich auf das klarste in der einfachen Kleidung der vergoldeten Borussia: ein formloser Rock und ein etwas langes, auf die Hüften herabfallendes Mieder; dem eitlen Tand sind keinerlei Zugeständnisse gemacht. Die Borussia, man glaube es mir, ist eine häusliche Frau, und um das noch besser zu beweisen, hat der Künstler ihr in die rechte Hand einen Lorbeerzweig und in die linke anstatt eines Zepters den Schaft einer Fahne gesteckt, der zum Verwechseln einem Besenstiele ähnlich sieht, welcher in einem Heroldstabe und einer Spitze endigt. Der Heroldstab ist das Symbol für die preußische Vaterlandsliebe, und die Spitze dient als Blitzableiter; damit ist der praktische Sinn angedeutet. Es bleiben noch die idealen Bestrebungen: sie sind dargestellt durch ein paar majestätische Flügel, die auf geschickte Weise, vermittels einer Öffnung in dem Mieder, an den Schultern angebracht sind. Es gibt nichts Harmonischeres als diese Mischung von Symbolischem und Naturalistischem. Die halbausgebreiteten Flügel, der Besenstiel und die im Winde flatternden Röcke, ist das nicht die höchste Errungenschaft der modernen Kunst mit ihren Antithesen und ihrer Wahrheitsliebe im Kleinen? Wenn man schließlich die Säule von hinten betrachtet, so bilden die Falten des Rockes mit den Füßen der Staue eine Art Triangel von höchst erheiternder Wirkung. Kurz, wenn ein Fremder nach Berlin kommt, so ist es die erste Sorge seiner Freunde, ihn nach der Siegessäule zu führen. Die sanfte Heiterkeit, welcher dieser Besuch
in ihm hervorruft, lässt ihm Berlin in einem viel freundlicheren Lichte erscheinen. Leider hatten meine eigenen Freunde diese Rücksicht außer acht gelassen.
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